Essen. . Seit 1991 besteht die Städtepartnerschaft zwischen Essen und Tel Aviv. Um diese endlich zu beleben, reiste der Oberbürgermeister mit einer Delegation in die quirlige Metropole.
Seit 1991 besteht die Städtepartnerschaft zwischen Essen und Tel Aviv. Um diese endlich zu beleben, reiste der Oberbürgermeister mit einer Delegation in die quirlige Metropole.
Geschwister müssen sich nicht ähnlich sehen. Essen und Tel Aviv tun es auch nicht. Ein kurzer Spaziergang an der Strandpromenade der israelischen Metropole reicht da vollkommen aus, um zu begreifen, dass der Unterschied zwischen Mittelmeer und Baldeneysee nun einmal elementar, quasi unaufhebbar ist. Trotzdem nennen sich diese 3200 (Flug-)Kilometer entfernten Städte seit mittlerweile 21 Jahren Schwestern. Oberbürgermeister Reinhard Paß scheint jedoch der erste in beiden Rathäusern zu sein, der sich einmal ernsthaft gefragt hat: warum eigentlich?
Im Gegensatz zu den anderen vier Partnerstädten wurden einzig die Beziehungen Essens zu Tel Aviv nie mit Leben gefüllt. Zumindest nicht von offizieller Seite aus. Das änderte sich auch nicht im Jahr 2010, als Essen immerhin Kulturhauptstadt Europas war. Die deutsche Stadt, die bei den Israelis nach wie vor absolut angesagt ist, bleibt Berlin. Danach kommt lange nichts, erst recht nicht Essen. Nur wenige Menschen haben hier an diesem kleinen Fleck des Nahen Ostens etwas von dem Ereignis Ruhr.2010 erfahren, wie uns nicht nur der Künstler Roy Mordechay berichtet. „Wenn der Name Essen fiel, dann bloß, wenn ich von meiner Ausstellung beim Baustelle-Schaustelle-Projekt erzählte. Das Ruhrgebiet ist bei uns noch immer eine große Unbekannte.“
Das könnte sich nun vielleicht ändern. Eine zehnköpfige Delegation aus Ratsmitgliedern und OB reiste auf Einladung seines Amtskollegen Ron Huldai für fünf Tage in die quirlige Stadt, um sich endlich einmal kennenzulernen. Damit diese Bekanntschaft keine flüchtige wird, packte man das Programm gründlich voll. Besuche in Kunst- und Gotteshäusern, in Schulen, Bauhaus- und Templersiedlungen standen darauf, ebenso in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und an der Klagemauer in Jerusalem, wie auch ein intensives Gespräch mit dem Deutschen Botschafter. Die Tatsache, dass die Essener Delegation, und allen voran der OB, eine gute Figur in Tel Aviv abgeben, liegt auch an Uri Kaufmann. Der Leiter der Alten Synagoge ist mit von der Partie und entschlüsselt geduldig und kenntnisreich wie ein Nachschlagwerk auf zwei Beinen den Reisenden so manches Rätsel der jüdischen Kultur.
Bereits an dieser Stelle sei verraten: Essen und Tel Aviv begegneten sich wie zwei Geschwister, die bei der Geburt getrennt wurden und nun im Erwachsenenalter zum ersten Mal aufeinandertreffen: Freundlich, aufgeschlossen, ehrlich interessiert – aber irgendwie verwundert, dass man bei all’ den augenscheinlichen Unterschieden gleiche Gene in sich tragen soll.
Beide Städte wirken seltsam unfertig, beide sind Teil eines riesigen Ballungsraums. Doch während Essen nur eines von vielen Zentren im Ruhrgebiet ist, bildet Tel Aviv mit seinen 390.000 Einwohnern auf gerade einmal 50 Quadratkilometern den Bauchnabel einer Region von etwa 3,5 Millionen Menschen. Mehr noch: Tel Aviv, dessen Name übersetzt so viel wie „Frühlingshügel“ bedeutet, ist der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt Israels. Die Hauptstadt, das behäbig-konservative Jerusalem, wird hingegen immer mehr den Ultra-Orthodoxen überlassen.
Die Tel Aviver strotzen geradezu vor Dynamik, Lebensdurst und Selbstbewusstsein. Entsprechend heißt es im Begrüßungsschreiben der Stadtverwaltung an die Essener Freunde: „Wir hoffen, Sie sind gut ausgeruht angekommen, denn in den kommenden Tagen werden Sie in unserer aufregenden Kulturstadt wenig Zeit haben zu schlafen.“
Kulturelles Leben in Tel Aviv
Das Lebensgefühl, das noch vom Pioniergeist der Gründerzeit Israels geprägt zu sein scheint, ist ein deutlich anderes. Die Stadtoberhäupter sind genauso anders. Reinhard Paß trifft auf einen Amtskollegen, der eine nationale Größe in seinem Land ist. Ron Huldai hat nicht nur einen kräftigen Handschlag, er ist zudem ein außergewöhnlich durchsetzungsstarker Politiker. Ausgestattet mit einer satten Mehrheit im Rat, hat der ehemalige Kampfjet-Pilot und Schuldirektor seiner Stadt einen Haushalt mit Überschüssen beschert und zum Zentrum für Hochtechnologie-Unternehmen gemacht.
Natürlich hinkt auch dieser Vergleich. Die israelischen Kommunen wenden etwa deutlich weniger für Soziales auf und für den öffentlichen Nahverkehr ist in erster Linie die Zentralregierung in Jerusalem zuständig. Gleichwohl hat Huldai Geschick und Weitsicht bewiesen. Etwa Ende der 1990er Jahre, als alle Wirtschaftswelt im Rausch der rasant steigenden Aktienkurse für Technologie-Unternehmen steckte. Kaum im Amt, kündigte Huldai an, seine Stadt mit Sparmaßnahmen für die nächste Krise vorbereiten zu wollen – eine Krise, die 1998 noch keiner kommen sah. Er scheute nicht davor zurück, den kostenlosen kommunalen Schulbus-Service zu streichen, weil er das Geld lieber in Schulen investiert sieht, die sich darauf spezialisiert haben, Kindern von Einwanderern schnellstmöglich Hebräisch beizubringen.
Eine dieser Einrichtungen ist die von „Tel Aviv Foundation“ betriebene Bialik Rogozin Schule. Über sie ist 2011 ein Dokumentarfilm gedreht worden, der den Oscar erhielt. Die Essener Delegation ist ebenfalls angetan, hier sieht man Ansätze für einen Erfahrungsaustausch. „Kinder sind Kinder. Wir fragen sie nicht, wo sie herkommen oder ob sie legal oder illegal hier sind. Wir kümmern uns um sie“, sagt Eli Nechama, der Schul-„Direktor mit dem großen Herzen“, wie er genannt wird. Er weiß aber, dass seine Schülerschaft aus 48 Nationen besteht. In Deutschland würde man seine Bildungsstätte eine Problemschule nennen. Eli Nechama nimmt das Wort Problem nicht einmal in den Mund. Auch nicht, als er von einem Kind erzählt, das auf die Frage „Was hast du gestern geträumt?“ mit leerem Blick zurückfragte: „Was sind Träume?“
Zurück zum Bürgermeister Tel Avivs. Die Bürger seiner Stadt haben den charismatischen Huldai bisher drei Mal wiedergewählt. Sie werden es wohl ein viertes Mal tun. Egal wo der 68-Jährige auftaucht, drehen sich die Menschen nach ihm um, suchen das Gespräch mit ihm oder bitten ihn um ein gemeinsames Bild mit der Handy-Kamera. Als wir ihn nach dem Geheimnis seines Erfolgs fragen, sagt er nur: „Ich habe die Strände nicht gebaut, die waren schon da.“ Erst seine Mitarbeiter verraten uns, dass es Huldai war, der den Küstenstreifen seiner Stadt als schützenswertes Gut erkannte, eines, das man pflegen und seinen Bürgern zugänglich machen sollte.
Seinen Gästen aus Essen macht Huldai auch das kulturelle Szeneleben zugänglich und nimmt sie zu diversen Eröffnungen mit. Etwa zum Aufschließen des „coolsten Einkaufsladens“ der Stadt, der für wenige Woche in weniger coolen Stadtteilen aufpoppt – und dann wieder weiter ziehen wird („Pop-up-Stores“ sagen die Angelsachsen zu diesem Guerilla-Marketing-Konzept). Oder zu einem Ausstellungsstart in dem arabisch geprägten, wunderschönen Hafenviertel Jaffa, wo angeblich die „aufregendsten jungen Künstler Israels“ zu sehen sind. Oder er lädt sie zum Essen an einen meterlangen Festtisch, wo von einem Starkoch in einem viel zu engen T-Shirt regionale Spezialitäten serviert werden. Der Botschafter Bulgariens sitzt ebenfalls an der Tafel, ein Vertreter der ehemaligen Kulturhauptstadt Liverpool ebenso. Nach Huldai darf aber nur noch Reinhard Paß eine kurze Tischrede halten, damit vor dem Essen auch sein Essen mal in aller Munde ist. Im Mittelpunkt der Reise steht aber der Besuch des großen Straßenfestes, mit dem die Tel Aviver den Start in ihr Kulturjahr 2012 feiern.
Das Feiern der Kultur ist in der Stadt, die gerade einmal etwas mehr 100 Jahre alt ist und deren erste Einwohner ihr Grundstück per Los zugeteilt bekamen, kein Getue; auch kein ausgeliehenes Kleid, mit dem man sich lediglich zu besonderen Anlässen schmückt. Nein, Kunst, Musik, Literatur sind allgegenwärtig und hoch geschätzt. Die Zahl der Galerien kann zwar nicht ganz mit der an Cafés und Restaurants mithalten, ist aber gleichwohl enorm. „Das ist Segen und Fluch zugleich“, sagt der 36-jährige Roy Mordechay. Für so viele gute Künstler sei der israelische Markt schlicht zu klein, aber alle schätzen sie das kreative Klima in ihrer Stadt, weil es sie inspiriert. Sie fühlen sich als Künstler in ihrer Stadt willkommen.
So hat das Kunstmuseum in Tel Aviv etwa seinen spektakulären Erweiterungsbau nicht nur mit dem deutschen Künstler Anselm Kiefer im November vergangenen Jahres eröffnet, sondern vergangenes Wochenende einheimischen Künstler Raum für ihre Arbeiten gegeben. Und zwar solchen, die so schnell keine Chance bekommen würden, in so einem renommierten Haus auszustellen. Ähnlich wie das Museum Folkwang, ist das Gebäude durch einen spektakulären Anbau jüngst erweitert worden. Ähnlich wie in Essen waren es großteils private Spenden, die dies möglich machten. Damit es mehr Gemeinsamkeiten werden, überreicht Reinhard Paß nach einer Führung durchs Haus, der Museums-Chefin Shuli Kislev einen Ausstellungskatalog aus dem „Schönsten Museum der Welt“ in Essen. Die Direktorin wird erst irritiert lächeln, und sich dann für dieses Geschenk bedanken.
Entscheidend für das schwesterliche Verhältnis dieser beiden ungleichen Städte dürfte sein, ob man das erste Kennenlernen weiter intensiviert. Die pragmatisch zupackende Art Huldais scheint Paß jedenfalls zu liegen. Dass man die Essener außerordentlich herzlich empfangen hat, trägt ebenfalls zur Zuversicht in Sachen gemeinsamer Projekte bei – etwa auf dem Gebiet der Wissenschaft. Huldai sagt nicht lang und umständlich, dass es schön oder wünschenswert wäre, wenn mehr Essener in Tel Aviv studieren würden. Huldai sagt: „Ich will hier mehr ausländische Studenten.“ Dabei schaut er einen an, als wolle er zusehen, in welchen Gehirnwindungen seines Gegenübers dieser Satz elektrochemische Impulse auslöst.
„Die Chemie stimmt zwischen uns“, sagt Paß und lädt Huldai zu sich an die Ruhr ein. Dieser erwidert die Einladung auf seine Art: „Ich bin im Mai in Wiesbaden, möchten Sie nicht auch dahin kommen?“ So oder so, scherzt Ron Huldai: „Wir werden uns früher wiedersehen, als Sie glauben.“
Fünf Schwestern
Neben Tel Aviv in Israel zählen Nishnij Nowgorod an der russischen Wolga, Sunderland im Vereinigten Königreich, Tampere in Finnland und das französische Grenoble zu Essens Schwesterstädten. Außerdem gibt es eine Partnerschaft mit Hindenburg O.S in Polen.