Essen. Bahri Celik kam 1970 mit 18 Jahren nach Borbeck, um bei Krupp zu arbeiten. Fünf Jahre wollte er bleiben, jetzt leben auch seine drei Töchter und elf Enkel hier. „Wir haben nicht gearbeitet, wir haben malocht“, sagt Celik.
Ihm verdankt Essen elf Einwohner: Bahri Celik kam 1970 nach Borbeck, um als Schlosser bei Krupp zu arbeiten. Heute lebt er mit seiner Frau, ihren drei Töchtern und sieben Enkeln hier.
Als Bahri Celik sich beim Arbeitsamt in der Türkei meldete und sie ihm die Stelle in Deutschland anboten, zögerte er nicht: „Ich hatte von der Arbeit im Ausland gehört.“ Er war 18 Jahre alt und ging: Erst in die Pfalz, dann nach Borbeck. Immer im Hinterkopf: „Ein paar Jahre arbeiten und ab nach Hause.“ Bei Krupp arbeitete er im Lokbau und lebte zunächst in einem Wohnheim. Beim Militärdienst in der Türkei lernte er dann seine Frau kennen, die 1971 nach Essen kam. „Es war ein Schock“, beschreibt sie. Denn sie verstand kein Wort, hatte zwei kleine Kinder und eine Wohnung ohne Heizung und ohne Bad. Manchmal schlich sie durch den Flur, damit sie bloß keinen traf. Doch sie hatte keine Chance, den Nachbarn zu entkommen. „Eine Nachbarin kam jeden Tag zum Kaffee und erklärte mir, was wie heißt“, erzählt Fatma Celik. Wenn sie einkaufen musste, passte die Nachbarin auf ihre Kinder auf. Als Celiks umzogen, waren sie es, die die Nachbarin zum Einkaufen abholten und ihr halfen. Das sei weder deutsch noch türkisch, sondern menschlich, sagt der 65-Jährige. „Sie waren so lieb“, erinnert sich seine Frau.
Verständnis für Vorurteile
Vor kurzen ist sie mit ihrem Mann wieder innerhalb Borbecks umgezogen, geklingelt habe noch keiner. Heute gebe es viele Vorurteile gegen Türken. „Ich kann das verstehen“, sagt Hülya Yildirim (33). Sie ist die jüngste Tochter: „Viele Türken sind später gekommen, weil es heißt, in Deutschland gibt es Geld umsonst.“
„Wir haben nicht gearbeitet, wir haben malocht“, sagt ihr Vater. Zeitweise hatte er noch einen Job an einer Tankstelle. Bei der Arbeit sei er nie schlecht behandelt, sondern gelobt worden, weil er so fleißig war. Heute tue es ihm weh, wenn ihn jemand auf der Straße „Scheiß-Türke“ nennt.
1993 war für Bahri Celik Schluss bei Krupp. Seitdem hat er Minijobs und fährt Bus. Seine Töchter haben ihre Ausbildungen abgeschlossen: sind Zahnarzthelferin, Kosmetikerin und Frisörin. In der Grundschule sprach Hediye Güngör (43) noch kein Wort Deutsch. Stattdessen weinte sie bitterlich, als sie ihren Ohrring verlor und es der Lehrerin nicht erklären konnte. „Hätten wir gewusst, dass wir bleiben, hätten wir unsere Töchter auch nicht zur Hauptschule geschickt“, sagen ihre Eltern. Damals lag die halt am nächsten. Hinzu kam, dass Bahri Celik versicherte seiner Frau immer wieder versicherte: „Wir bleiben nur fünf Jahre.“ Die 65-Jährige hat wohl nichts so oft gehört wie diesen Satz. Außer ihren Kosenamen vielleicht: „Schatzemann“.
Es gab kein Datum, an dem sie beschlossen: Wir bleiben. „Das lief ganz automatisch“, sagt Bahri Celik. Weil ihre Kinder und Enkel hier leben. Wenn die um sie herum sind, dann sind sie glücklich. Ihr Glück haben ihre drei Töchter mit türkischen Männern gefunden. Was auch ihren Vater freut. Er hätte deutsche Partner akzeptiert, sagt er zwar. Er macht aber kein Geheimnis daraus, dass es so ganz in seinem Sinne sei.
Als Rentner mehr Zeit in der Türkei verbringen
Enkel Emre (8) denkt indes bereits an seine berufliche Zukunft. Er möchte Polizist werden, während Ahmet (13) sich vorgenommen hat, aufs Gymnasium zu gehen. Ayse-Nur (18) will studieren, ob Jura oder Medizin weiß sie noch nicht. Ihre Mütter sind damals nicht in den Kindergarten gegangen, für fünf Jahre Deutschland habe sich das doch nicht gelohnt, sagt Fatma Celik lächelnd. Sie hat lange bei der Diakonie gearbeitet, später im Klinikum die Wäsche gemacht und aufgeräumt.
Denkt sie über Heimat nach, dann sei es so als hätte sie zwei Seelen, beschreibt sie. Für ihren Mann bleibt die Türkei Heimat. Er vermisst sie sehr. Als Rentner will er dort bald mehr Zeit verbringen. Wäre die Türkei damals so weit gewesen wie heute, er wäre nicht gegangen. Ihre Tochter Hediye Güngör macht dieses Hin- und Hergerissensein traurig. Sie haben alle einen deutschen Pass, aber kein eigenes Land, sagt ihre Tochter Ayse-Nur. Sie ist jetzt so alt, wie es ihr Opa war, als er auswanderte. Davor hätte die Enkelin Angst. Warum sollte sie auch gehen, sie fühlt sich ja wohl und sagt lieber: „Danke Opa, dass Du hierher gekommen bist.“