Essen. . Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter dem Borderline-Syndrom – viele von ihnen scheuen den Schritt in die Öffentlichkeit. Zu groß ist der Kampf mit sich selbst. Mitglieder einer Selbsthilfegruppe berichten über die Erkrankung.

Manchmal nachts, wenn die Dunkelheit zu viele Gedanken zuließ, hat sie Löffelstiele geschluckt. Langsam hat sie das Metall gebogen, wenn kein anderer in der Küche war, bis der Stiel abbrach. Dann hat sie ihn herunter geschluckt. Einfach so. „Ich musste mich abreagieren“, sagt die 30-jährige Frau mit dem kinnlangen Haar. Was sie dazu brachte, weiß sie erst seit kurzem: das Borderline-Syndrom.

Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leiden an der Persönlichkeitsstörung, die Menschen verzweifeln lässt, sie dazu treibt, sich selbst zu verletzen, sich Schnittwunden zuzufügen oder die Haare auszureißen, nur um den eigenen Körper zu spüren.

Sechs junge Borderliner sitzen an diesem Abend im Veranstaltungstraum eines eines Altenheims, um genau darüber zu sprechen. Mindestens einmal in der Woche treffen sie sich, eine Selbsthilfegruppe, aus der über zweieinhalb Jahre enge Freundschaften entstanden sind. „Keiner versteht uns so sehr wie wir hier in diesem Kreis“, sagt der einzige Mann am Tisch, der die Gruppe auch gegründet hat. „Draußen“ wisse kaum einer wirklich über die Erkrankung Bescheid, aber viele Vorurteile gibt es – so wolle man anonym bleiben.

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Von DerWesten

Die Geschichten, die der Gründer der Gruppe und die Frauen erzählen, sind ergreifend: Da ist die junge Frau, die von ihrem Vater oft geschlagen wurde. Als Hyperaktivität bezeichneten die Lehrer es, wenn sie selbst schnell wütend wurde, um sich schlug. Nach einem Streit um einen Fernseher habe sie sich im Bad eingeschlossen, im Wutwahn alles aus dem Medizinschrank geschluckt, was sie greifen konnte. „Ich weiß noch, dass ich grünen Schleim ausgebrochen habe.“ Damals war sie 17.

Aufmerksamkeit und Anerkennung, darum sei es ihr stets gegangen, sagt die 27-jährige Frau gegenüber am Tisch, die über sich nur sagt, dass sie in der Erwachsenenbildung arbeite. Die Eltern seien beide Alkoholiker gewesen. Daneben sie selbst, ein junges Mädchen, dass sich mit guten Noten und einem gut geführten Haushalt Anerkennung erarbeiten wollte. „Den Druck, diese diffusen Ängste, habe ich heute noch.“

„Wir leben in solchen Extremen, sind tief zerrissen“

Streng hat sie ihr Haar nach hinten gebunden, sitzt in schwarzer Hose und Bluse kerzengerade auf dem Stuhl. Kaum möchte man ihr abnehmen, dass sie im Wahn Spiegel zerschlagen oder sich ganze Haarbüschel vom Kopf gerissen hat, nur weil ihr Partner Kleinigkeiten, die ihr wichtig waren, nicht bemerkte.

„Wir leben in solchen Extremen, sind tief zerrissen“, sagt dazu ihre Sitznachbarin, die jahrelang an Essstörungen litt, die doch nur die eigene, innere Leere kennzeichneten. „Das ist ein ewiges Hin und Her zwischen Hass und Liebe, gegen sich und andere.“

Auch deshalb sei es so schwierig, Verhaltenstherapien zu Ende zu bringen, oder überhaupt einen Therapeuten zu finden, ergänzt der eher zurückhaltend wirkende Mann neben ihr: „Einige Therapeuten lehnen uns sofort ab, weil wir einerseits als sehr einnehmend und fordernd gelten, aber dann schnell aufgeben.“

„Ich habe immer wieder meine Eltern angerufen, damit sie mich aus den Kliniken, in denen ich war, abholten“, sagt die Frau, die die Löffel schluckte. Nur einmal sagten die Eltern Nein, da wollte sie eben nach Hause laufen – von einem Therapiezentrum in Warstein, 140 Kilometer, mit einem Gipsbein. „Ich hatte einen Bänderriss, der Gips scheuerte meine Haut blutig.“ Stunden sei sie gelaufen, bis es irgendwann Klick gemacht habe. „Ich drehte um und habe die Therapie zu Ende gemacht.“

Heute gehe es ihr besser, auch wenn sie mit nur 30 Jahren verrentet sei, denn als Erzieherin dürfe sie nicht mehr arbeiten, sagt sie. „Borderline ist nicht im klassischen Sinne heilbar“, ergänzt der schwarz gekleidete Mann. „Im Alter lernt man aber, damit umzugehen.“

Sein Schlusssatz: Die Gruppe löst sich auf - und hinterlässt das Gefühl, doch nur einen Teil der Diagnose „Borderline“ verstanden zu haben.