Essen. Beatrix Poganiacz lernte ihren Mann Franz vor einem halben Jahrhundert beim Tanz kennen. Heute pflegt sie den Demenzkranken zu Hause.
Wie sie sich kennengelernt haben? „Beim Tanz, in unserem Dorf in Ostpreußen.“ Sie sagt das, denn er führt schon länger keine Unterhaltungen mehr. Er ist dement, und sie ist heute seine Frau, Pflegerin und gesetzliche Betreuerin.
Beatrix (71) und Franz (78) Poganiacz sind nun seit 52 Jahren verheiratet. Sie haben zwei Töchter groß gezogen, sind mit ihnen nach Deutschland gegangen, da war das erste Enkelkind schon da. 1981 war das, in Polen herrschte Kriegsrecht, sie konnten als Deutschstämmige das Land verlassen. Zogen nach Essen, „weil meine Mutter dort schon lebte“.
"Eines Tages kam er nicht"
Sie fand eine Stelle in einer Bäckerei, hatte nie Heimweh. Er, der in Polen Tankwagen gesteuert hatte, arbeitete in der neuen Heimat nur noch zwei Jahre lang. In guten wie in schlechten Zeiten, Beatrix Poganiacz hat das ernst genommen. Ging 2005 in Rente, und arbeitete gleich weiter, nun auf dem Frohnhauser Markt.
„Er brachte mich hin, holte mich ab. Eines Tages kam er nicht.“ Auf dem Weg von ihrer Borbecker Wohnung zum Markt hatte er sich verirrt. In der Erinnerung von Beatrix Poganiacz war das der Beginn, und die Zeichen mehrten sich: Er fuhr Markierungshütchen auf der Straße um, unbeirrt, „bis ich schrie.“ Er schloss Türen zu statt auf - und umgekehrt. „Einmal hatte er meine Bluse an.“ Sie gingen zum Arzt. Der stellte nichts fest.
Psychiater stellte Demenz fest
Als Franz Poganiacz 2007 mit dem Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus kam, sollte es erst Ärger mit dem Zimmernachbarn und dann endlich eine Diagnose geben. In der ungewohnten Umgebung fand der alte Mann nicht zur Toilette und nicht zurück ins Zimmer, zog sich aus, war nervös, aufgeregt, aggressiv. Nun stellte ein Psychiater eine Demenz fest und Franz Poganiacz bekam Tabletten, die ihn ruhiger machen. Denn er ist nicht nur verwirrt, er leidet auch unter Angstzuständen, Wahnvorstellungen. Zweimal war er in der Psychiatrie.
Meist ist er zu Hause in Borbeck, wo er sich auch nicht mehr zurecht findet, nicht weiß, wo die Küche ist und wo das Bad. Dabei läuft er rastlos durch die Wohnung, ein Getriebener. Wenn ihn die Tabletten müde machen und er sich tagsüber schlafen legt, eilt seine Frau zum Einkaufen. Die Tür schließt sie ab, Sorgen begleiten sie trotzdem. „Zum Aldi traue ich mich nicht mehr, das ist zu weit.“ Sie sei nur froh, dass er Angst vor der Tiefe habe und den Balkon meide.
Demenz - ein wachsendes Problem
Er ist schon mal weggelaufen, als sie zu Hause war. „Er schloss mich im Wohnzimmer ein, dachte wohl, es sei die Wohnungstür.“ Auf Socken lief er durch die Stadt, sie holte per Handy Hilfe. Er wolle eben immer weg, nach Hause, nach Wartenburg, wo er geboren ist - und das längst Barczewo heißt. „Ich will heimfahren, gib mir 100 Euro“, hat er einmal gesagt. Er lebt in Ostpreußen und in der Euro-Zone. Sie hat ihm das Geld in die Pyjama-Tasche gesteckt, „da hat er sich beruhigt“.
Mann wird wieder zum Kind
Beatrix Poganiacz streitet nicht mit dem Schicksal und nicht mit ihrem Mann. Wenn er versucht, die fotografierten Früchte vom Tischset zu löffeln, legt sie ihm eins mit Blumen hin. „Er weiß, dass man die nicht essen kann.“ Wenn er in die Seife beißt, weil er sie für einen Apfel hält, fragt sie: „Hat nicht so gut geschmeckt?“
Sie hilft ihm beim Essen, sie wäscht, badet, kleidet ihn, bringt ihn zur Toilette. Er rufe fast immer rechtzeitig. „Mama“, ruft er. Und sie antwortet „Ja, Opa, ich komme.“ Sie sind doch schon so lange Großeltern: „Opa, das habe ich mir wegen der Enkel angewöhnt.“
Die drei Enkel sind zwischen 23 und 30 Jahre alt, erwachsen; ihr Mann wird wieder zum Kind. Nachts wiederholt er dieses „Mama, Mama, Mama“, fragend, lauter werdend, am Ende schreiend. Es hilft, wenn sie „Bin ja da“, sagt. Oft wandert er nachts durch die Wohnung, zieht Schubladen auf, umkreist den Tisch, verstellt Stühle. Wenn sie erschöpft einschlafe, wache sie mit der Frage auf: „Wo ist er?“
"Er ist lieb, wenn man ihn nicht anschreit"
Er ist bei ihr, fast immer. Nur wenn sie zum Beispiel einen Arzttermin hat, holt sie für ein paar Stunden die Diakonie. Und wenige Monate lang war er einmal wöchentlich in der Tagespflege in einem Altenheim. „Es war gut, einen freien Tag zu haben. Man baut ab, auch nervlich.“ Leider habe das Heim den Vertrag gekündigt, ganz plötzlich: Er sei zu unruhig, nicht zu händeln. Als sie wenig später nach Polen reiste, habe es in der Kurzzeitpflege jedoch keine Probleme gegeben. „Er ist ja lieb, wenn man ihn nicht anschreit.“
Sicher, ihr Mann könne anstrengend sein, aber dass die Profis von der Tagespflege ihn so abgeschoben haben, hat sie gekränkt. Sie selbst hat sich ganz auf ihn eingestellt. Stellt den Fernseher leise, weil Lärm ihn nervös macht. Telefoniert kurz, weil er ungeduldig wird, wenn sie mit anderen spricht. Sie geht mit ihm spazieren, wenn mit der Verwirrung seine Unruhe wächst: „Da zieht er ab.“ Mal erkenne er sie nicht, mal strahle er sie an. Mal sagt er passend Danke, Bitte, Guten Tag, mal sind seine Worte ein polnisch-deutsches Gemurmel. Ins Heim? Nicht, so lange sie es noch schaffe. Es gebe schöne Momente, wenn sie bei Kaffee und Kuchen zusammen sitzen. Nur den einen freien Tag hätte Beatrix Poganiacz gern zurück, aber sonst? „Ich hab’ nie Langeweile.“