Essen. . Junge Menschen aus ganz Deutschland kämpfen um die Plätze an der renommierten Folkwang-Universität. Da Presse und Fotografen bei der Aufnahmeprüfung verboten sind, musste ein Selbstversuch her. Auf dem Weg zu den Brettern, die die Welt bedeuten.
Die Nachricht, dass ich für die Bühne ungeeignet bin, erhalte ich am Dienstag um 12.33 Uhr. Einer meiner Prüfer, längeres schwarzes Haar, italienisches Aussehen, fasst meine schauspielerische Darbietung kritisch zusammen: „Ich habe Ihre Bedürfnisse und Triebe nicht gesehen und nicht verstanden. Ich habe nur eine Rolle erkannt, nicht die Figur.“ Noch rätselnd über diese Begründung verlasse ich den Prüfungsraum und schließe die Tür. Aus und vorbei der Traum von den Brettern, die die Welt bedeuten.
Vier Stunden früher: Auf den Tischen in der Neuen Aula der früheren Abtei Werden liegen Dutzende Aktenordner verteilt auf den Tischen. Darin abgeheftet sind die Bewerbungsunterlagen von 780 jungen Menschen, die um einen der zehn Schauspiel-Studiengangsplätze an der renommierten Folkwang-Universität kämpfen. Auch ich habe mich Ende Oktober vergangenen Jahres beworben, gestern fand mein sogenanntes „Vorsprechen“ statt. Die Pressestelle verbot Reporter und Fotografen bei den Prüfungen: Das würde verzerren. Nein, auch mit Bewerbern, die zustimmen, dürfe man nicht reden. Um zu verstehen, was in dieser Woche dort geschieht, muss es also ein Selbstversuch sein, sozusagen als ein vom Theater begeisterter Privatmann.
In der Anmelde-Warteschlange treffe ich Sophie, große braune Augen, markante Stimme mich leichtem Krächzen. Shakespeares „Julia“ und die Rolle der Abigail Williams aus Arthur Millers „Hexenjagd“ hat sie für ihr fünftes Vorsprechen vorbereitet. Fünf Vorsprechen sind wenig, im Laufe des Vormittags werden auch Zahlen von 15 bis 20 Vorsprechen genannt, teilweise in einem Zeitraum von eineinhalb Jahren.
„Das ist ganz schön kafkaesk.“
„Was machst du, wenn du nicht gerade ein Vorsprechen hast?“, frage ich Sophie. „Mich mit Jobs über Wasser halten. Meine Musical-Ausbildung habe ich abgebrochen, die war nicht das richtige für mich.“ Kurze Zeit später ist sie in der Menge verschwunden.
Einige Wartende schauen mich skeptisch an. Konkurrenz?! Andere fallen sich in die Arme, weil sie sich auf ihrer Route von Schauspielschule zu Schauspielschule wiedersehen. „Ich bin zum ersten Mal in Essen“, sagt Torben. „Ist nicht so schön wie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien“, sagt er. Dass Schauspiel sein Ding sei, habe er schon immer gemerkt. „Ich habe mich immer gerne verkleidet. Auch in einem Alter, wo ich mich gefragt habe, ob das noch normal ist.“ Er lacht. Mit einem kurz vorher kennengelernten Mitbewerber unterhält er sich über „Black Swan“, einen neuen Kinofilm. „Der ist ganz schön kafkaesk“.
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Hier ist nicht die oft gescholtene junge Generation versammelt, die das RTL-Dschungelcamp und „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) als Kulturgut ansieht. Trotzdem gibt es Klischees: Über die Flure läuft eine stark geschminkte Blondine mit hochhackigen Schuhen und piepsiger Stimme. Sie wird keine Chance haben bei den fünf Prüfungs-Kommissionen, wie die Jury hier genannt wird. Ein anderer Bewerber trinkt sich mit drei Flaschen Bier Mut an.
Sie stöhnen, grunzen und röcheln.
Raphael, der bereits Schauspiel-Student in Essen ist, macht mit uns Aufwärmübungen: „Stellt euch vor, ihr seid im Moor und steckt fest!“, „Klopft eure Beine ab und spürt danach in euren Atem hinein!“. Oder: „Ihr dürft Seufzen und dabei Geräusche machen.“ Plötzlich stöhnen, grunzen und röcheln meine im Kreis stehenden Mitbewerber. Ich denke: Du bist hier völlig fehl am Platz.
Kurz vor 12 Uhr: Mein Puls rast, obwohl es nicht um meine Zukunft geht - wie bei vielen anderen hier. Ich höre Musik und lausche mit einem Ohr den Gesprächen. Eine Tilda Swinton in jungen Jahre entspannt sich, schließt ihre mysteriösen Augen und flüstert dabei ihren Text vor sich hin. Andere knibbeln an den Fingern oder quasseln ohne Punkt und Komma und übertünchen ihre Nervosität mit einer unerträglichen Selbstdarstellung. Viele sind normale Menschen von nebenan, weder ausgeflippt noch irre.
Harter Tobak
Endlich, der Moment ist gekommen: Die Scheinwerfer blenden, meine Hände zittern. „Und du willst das Herz einer Mutter haben und kannst mit ansehen, wie ich diese namenlose Angst leide“, sage ich zu meiner imaginären Spielpartnerin und werde beobachtet von einer vierköpfigen Jury.
Es ist die Schlussszene von Henrik Ibsens „Gespenster“. Osvald leidet unter einer Gehirnerweichung, den Spätfolgen der Syphilis seines Vaters, und bittet seine Mutter, ihm Morphium-Tabletten zu geben. Das ist harter Tobak. Meine Augen werden wässrig, so verbunden bin ich mit der Rolle.
Die Entscheidung
Danach spiele ich Franz Moor aus Schillers „Die Räuber“. Kurz werde ich herausgeschickt, dann fällt die Entscheidung.
„Für die zweite Runde reicht es nach unseren Vorstellungen nicht. Sie waren zu äußerlich, wie bei einem Vortrag.“
„War ich zu statisch?“
„Nein, aber bei Franz haben wir bei Ihnen nicht das szenische Gefühl bekommen.“
Ich verstehe nur Bahnhof.
„Und wie war Osvald?“
„Der war anfangs nicht schlecht“, sagt Professor Thomas Buts. Immerhin etwas.
Psychische Herausforderung
Es ist mein letztes Vorsprechen. Ich werde nicht durch Deutschland reisen. Dafür fehlt mir die Leidenschaft, die Zeit, das Geld – ja, und wohl auch das Talent. Ein Vorsprechen ist ein Erlebnis, die perfekte Vorbereitung auf weitere Prüfungen. Nach der psychischen wie physischen Herausforderung hatte ich noch am Nachmittag Kopfschmerzen.
Als ich die Bühne verlasse, begegne ich ausgerechnet Sophie mit den großen Augen. Sie hat sich für die Julia einen Rock angezogen. „Toi, toi, toi“, flüstere ich. Vielleicht hat sie bei ihrem sechsten Vorsprechen Glück.