Essen.

. Verletzt, verlaufen oder verloren: Die Helfer der Bahnhofsmission am Essener Hauptbahnhof sind in allen Lebenslagen zur Stelle. Sie kümmern sich um verwirrte Reisende, organisieren Notunterkünfte und haben ein offenes Ohr bei Problemen.

Nasse Hunde stinken. Nach Raubtier, nach Schmutz, irgendwie beißend. Gunthild Bahls weiß das, doch die blinde Frau, die vor ihr auf dem kratzigen Boden des Bahnsteigs kniet und deren Hände fahrig durch das nasse Hundefell streichen, scheint diesen Geruch nicht zu bemerken. Blut, Blut, überall Blut, stammelt die gestrandete Frau. Gunthild Bahls beugt sich wie ein Schutzengel zu ihr herunter, beruhigt sie mit sanften Worten und zarten Berührungen.

Es sind Szenen wie diese, die ihr durch den Kopf schießen, wenn sie über die Bahnsteige des Essener Hauptbahnhofs patrouilliert. „Die Dame dachte, ihr Hund würde bluten, dabei hatte er sich nur in eine Pfütze gelegt“, sagt die Mitarbeiterin der Bahnhofsmission und zupft stolz ihre blaue Uniformweste zurecht. Viel hat Gunthild Bahls gesehen, viel hat sie erlebt in den zehn Jahren, die sie ehrenamtlich bei der Mission arbeitet. So wie eben die blinde Frau, deren Begleithund beim Einsteigen in einen Zug zwischen Waggon und Bahnsteig geraten war und den die Helfer unverletzt aus seiner misslichen Lage befreien konnten.

In Pantoffeln unterwegs

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Mit energischen Schritten läuft die resolute Essenerin mit den leuchtend roten, kurzen Haaren über den Bahnsteig und hält Ausschau nach hilfsbedürftigen Reisenden. Und die erkennt man nicht auf den ersten Blick, erklärt sie, während sie auf der ruckenden Rolltreppe zu Gleis sechs hochfährt. Ihr Blick ruht deshalb auch immer wieder auf den Füßen der Leute – denn Menschen mit Demenz erkennt man beispielsweise daran, dass sie in Pantoffeln unterwegs sind. In ihrem Job kommt es eben auf die Details an.

Die heute 62-Jährige stieg vor mehr als zehn Jahren bei der Bahnhofsmission ein, nachdem sie ihren Job bei der Telekom verloren hatte. Einmal pro Woche engagiert sie sich seitdem für die Armen, Kranken und Verzweifelten, die in den Räumen der Bahnhofsmission oder auf den Bahnsteigen stranden. Jeder Tag hier ist anders, eine neue Herausforderung. Da ist die Frau auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Partner, der Geschäftsmann, der beim Einsteigen in einen Zug ausrutscht und sich beide Schienbeine blutig schlägt. Oder der „klapprige Rentner“, der die Treppe zum Bahnsteig nicht hochkommt.

Neue Räumlichkeiten

Ein schrilles Klingeln aus ihrer Westentasche reißt sie aus ihren Gedanken und lässt sie nach dem Diensthandy greifen. Konzentriert hört Gunthild Bahls der Anruferin zu, obwohl um sie herum eine lärmende Meute mit Koffern und Taschen beladen zur Treppe strömt. Im Hauptquartier der Bahnhofsmission warte „Kundschaft“, berichtet sie auf dem Rückweg, bei dem die kleine Frau ihr übliches zügiges Tempo anschlägt. Geschickt umschifft sie wartende Menschentrauben, erklimmt Treppen, geht schließlich durch den Korridor zu Gleis 22. Dabei quietschen ihre Turnschuhe auf dem Fußboden und machen klar: hier kommt eine Frau mit einer Mission. Mit einem kräftigen Schubs öffnet sie die Tür zu den neuen Räumlichkeiten der Bahnhofsmission, die seit dem Umbau des Essener Bahnhofs vom Korridor zu Gleis 22 abgehen.

Foto Walter Buchholz WAZ FotoPool
Foto Walter Buchholz WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Dort wartet ein dünner blonder Mann, der in seiner Jeansjacke regelrecht versinkt, und trommelt unruhig mit seinen knochigen Fingern auf den Tresen. Er sei nur für einen Kaffee, ein Stück Kuchen und ein Schwätzchen gekommen, erklärt er, dann müsse er seinen Zug erwischen. Er kennt alle Helfer hier, ist Stammkunde. Während der Mann mit unsicheren Bewegungen den Kirschkuchen in mundgerechte Stücke zerteilt, erzählt er, wie er vor mehr als zehn Jahren in die Drogensucht geriet, seine Wohnung verlor und sich auf der Straße durchschlagen musste.

Von diesem harten Leben zeugen auch die Zahnlücken, die beim Sprechen immer wieder zwischen den schmalen Lippen zu sehen sind. Die Bahnhofsmission ist für ihn ein sicherer Hafen, ob zum Aufwärmen an kalten Wintertagen oder für erste Hilfe nach einer Schlägerei, in die er einmal geraten ist. Gunthild Bahls hört ihm geduldig zu, nippt an ihrem Kaffee und schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln, wenn er ins Stocken gerät. Denn auch das gehört zu ihrer Arbeit: Zeit haben, zuhören, einfach mal da sein.

„Hier ist einfach das Leben“

Nach zehn Minuten rappelt sich der Mann auf, stellt Tasse und Teller ordentlich zurück auf den Tresen und geht zur Tür. Er ist auf dem Weg in ein neues Leben, denn er hat einen Platz in einer Wohnanlage für Menschen im Methadonprogramm gefunden. „Dahin kann ich sogar meine Katze mitnehmen“, sagt er und die blauen Augen in seinem abgemergelten Gesicht strahlen vor Freude, bevor die Tür mit einem Klicken hinter ihm ins Schloss fällt.

Gunthild Bahls räumt das benutzte Geschirr weg, lehnt sich an den Tresen und spielt an ihrer Brille mit dem schmalen Silberrand. Langweilig werde es hier nie, sagt sie, und gerade deshalb liebe sie die Arbeit bei der Mission. „Hier ist einfach das Leben, mit allem, was dazugehört.“