Essen.
Viele Läden, gute Gastronomie, schöne Wohnstraßen: Es ist erstaunlich, was sich in Rüttenscheid an urbaner Qualität entwickelt hat. Nur überdrehen darf der Boom nicht - denn wer mieten oder kaufen will, konkurriert schon jetzt mit vielen Interessenten.
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Manche Essener Wochenmärkte wirken nur noch wie Wagenburgen: In der Mitte stehen ein paar Stände, drumherum pfeift der Wind über einen Platz, der leicht die doppelte Zahl vertragen könnte. In Rüttenscheid ist das anders. Da stehen die Markthändler bis hart an die Straße und verteidigen ihre Parzellen mit Zähnen und Klauen, da schieben sich an schönen Samstagen die Besucher zu Tausenden durch die engen Reihen. „Wir haben versucht, hier ein paar Bänke aufzustellen, damit die Leute sich mal setzen können“, sagt Rolf Krane von der Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR). Es gibt aber einfach keinen Platz.
Rüttenscheid, du hast es besser – so könnte man ein altes Goethe-Wort variieren. Vorausgesetzt natürlich, man mag es quirlig, unruhig und ab und zu ein bisschen exaltiert. Wohl kein Essener Stadtteil hat jedenfalls in den letzten Jahren einerseits eine derart kometenartige Entwicklung genommen, sich andererseits von Negativ-Trends abkoppeln können. Der Niedergang des inhabergeführten Einzelhandels etwa, der überall dramatische Ausmaße angenommen hat, ist in Rüttenscheid kaum ein Thema. „Ich behaupte, Sie finden im ganzen Ruhrgebiet keinen Ort, wo es noch so viele kleine Fachgeschäfte gibt“, sagt Krane. 400 Läden hat die IGR gezählt, darunter 350 an der Rüttenscheider Straße, der Rest in den Nebenstraßen, wo die Mieten erschwinglicher sind. Die Filialisierungsquote - Indiz für viel oder eben wenig Langeweile - ist mit 14 Prozent extrem gering. Es soll sogar Düsseldorfer geben, die am Samstag in Rüttenscheid einkaufen, raunen Markthändler. Wer die mitunter komplexbeladene Essener Seele kennt, weiß dass solche Nachrichten runtergehen wie Öl.
Die zweite Säule der Rüttenscheider Erfolgsstory ist die Gastronomie. Südlich der Einmündung Martinstraße bis fast zur A 52 und nördlich des „Stern“ nimmt die Ladendichte ab, dafür gibt es mehr Kneipen und Cafes, Clubs, Bars und Restaurants. Weil viele auch Tische rausstellen, ist das Straßenbild innerhalb weniger Jahre erfreulich bunt geworden. Die städtische Ordnungspolitik ist zwar immer noch im Zweifel kleinlich, wenn es um Außengastronomie geht. Immerhin aber betrachtet man nicht mehr jeden Hocker, der den Gehweg berührt, als Anschlag auf den öffentlichen Raum. So hat selbst die Behörde dazu beigetragen, dass Rüttenscheids urbane Qualität an schönen Sommerabenden etwas berauschendes haben kann.
Das Wort von der „Essener Altstadt“ ist verbreitet, trifft es aber nicht. Zum Glück ist Rüttenscheid ja weder eine fassadenhafte Butzenscheiben-Idylle noch eine Freistil-Zone für schlecht erzogene Kampftrinker. Entwickelt hat sich vielmehr eine höchst qualitätvolle Gastromeile, übrigens ohne dass dies jemand am grünen Tisch bei der Stadt oder sonstwo geplant hätte, was sowieso nie funktioniert. Die Kehrseite: Die vielen Besucher wollen zum Leidwesen der Anwohner parken und machen auch mal Krach bis tief in die Nacht. Den einen steht der Sinn nach Party, den anderen nach Ruhe - ein klassischer Konflikt, den republikweit wohl alle Stadtquartiere dieses Zuschnitts kennen.
Die Politik als Problem
Rolf Krane weiß das, wirbt aber darum, die Dinge im Zusammenhang zu sehen. „Rüttenscheid kann nicht allein von den Rüttenscheidern leben.“ Soll heißen: Die Vielfalt an Läden und Gastronomie gibt es nur deshalb, weil Rüttenscheid ein großes Einzugsgebiet hat und weil hier eben nicht nur die Wohnbevölkerung einkauft oder ausgeht. „Mit Anwohnerparken oder Straßensperrungen erreicht man wenig, riskiert aber, dass diese Mischung kaputtgeht“, warnt Krane. Überhaupt sind für ihn Stadtteilpolitiker, die Anwohner, Besucher und Einzelhändler gegeneinander ausspielen wollten, derzeit die größte Gefahr. „Es läuft gut, am besten, die Politik lässt uns einfach in Ruhe.“ Die Dramatisierung von Parknöten und Party-Lärm erscheint auch deshalb übertrieben, weil sonst schwer erklärlich wäre, weshalb Rüttenscheids Beliebtheit als Wohnort nicht etwa ab-, sondern zunimmt, weshalb es Freiberufler und Gewerbetreibende aller Art in Scharen hierhin zieht.
Dieser Drang ins Quartier hat allerdings eine ernste Kehrseite. „Wer mieten oder kaufen will, konkurriert mit vielen Interessenten“, weiß Krane. Entsprechend klettern die Preise. Makler erzählen, dass Häuser inzwischen zum 18-fachen der jährlichen Mieteinnahme verkauft werden, normal ist das 12-fache. Vor allem gut erhaltene Altbauwohnungen sind ruckzuck weg, Mondpreise nicht selten.
Die Preise steigen
Noch stimmt zwar die Mischung, noch leben im Stadtteil Alte und Junge, Singles und Familien, Wohlhabende und Ärmere beisammen. Man spürt noch, dass Rüttenscheid historisch ein Viertel des breiten Mittelstands ist, durchaus mit Tendenz ins Kleinbürgerliche. Doch das könnte sich schleichend ändern. „Einige Hauseigentümer begreifen nicht, dass sie sich langfristig selbst schaden, wenn sie jetzt abheben“, warnt Krane. Schon sind erste Läden gezwungen, in die Nebenstraßen auszuweichen. „Ich wollte eigentlich nach Rüttenscheid, aber jetzt muss ich wohl in die Innenstadt“, witzelte jüngst einer, der vergeblich im Stadtteil ein Ladenlokal suchte.
Der Boom darf nicht überdrehen, darauf gilt es aufzupassen. Dennoch: Rüttenscheid ist eine regional bekannte Marke geworden, eine der wenigen echten Essener Erfolgsgeschichten. So groß ist der Abstand zu anderen, dass es mitunter wütende Gegenreaktionen gibt. „Geh mir weg mit diesen Rüttenscheider Wichtigtuern“, schimpfte jüngst der Freund aus Kettwig. Aber Hand aufs Herz: Gibt es im Rahmen von Stadtteil-Käbbeleien ein größeres Kompliment?