Essen-Nord. In der SPD-Bastion Vogelheim und weiteren Nord-Stadtteilen wurde die AfD stärkste Kraft. Bloß ein Denkzettel für die Bundespolitik?
Sie fühle sich „wie verkatert“, sagt Vanessa Gremer an diesem Vormittag nach der Europawahl. Die Altenessenerin ist SPD-Fraktionssprecherin für den Bezirk 5, zu dem auch Altenessen-Süd, Karnap und Vogelheim gehören – Wahlkreise, die die AfD bei dieser Wahl gewonnen hat.
„Die Ergebnisse machen traurig, wütend, und auch ein bisschen mutlos“, so Gremer. Denn so sehr man sich in den vergangenen Wochen auch für den Wahlkampf aufgerieben habe: „Die Schlappe war absehbar. Man bekommt ja mit, wie die Leute reden.“ Und „die Leute“ seien eben keinesfalls alle Rassisten oder Nazis, sagt sie.
SPD-Politiker: Wahlergebnis als Denkzettel für Bundespolitik
Vanessa Gremer ist privat und politisch eng mit ihrem Stadtteil verbunden. Die Menschen würden längst kein Geheimnis mehr daraus machen, dass sie die AfD wählen, sagt sie. „Manche zeigen mir stolz ihren Mitgliedsausweis.“ Und so sehr sie auch versuche, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen: „Man kommt nicht mehr an sie ran.“ Dann heiße es oft: „Gegen dich persönlich habe ich ja nichts. Aber die Altparteien sind seit Jahrzehnten schlecht für uns, deshalb wähle ich jetzt anders.“
SPD-Ratsherr Detlef Schliffke zeigt sich „erschreckt“ über das Ergebnis. „Da haben wir alle ziemlich schlucken müssen“, sagt er. „Mir ist klar, dass die Leute unzufrieden sind, im ganzen Land, aber eben auch im Essener Norden.“
Detlef Schliffke ist Ratsherr für Vogelheim und Altenessen-Süd, wo die AfD mit 26,8 bzw. 21,99 Prozent stärkste Kraft wurde. Es handele sich beim Wahlergebnis um „einen Denkzettel“ für die Bundespolitik, meint er. Daher könne man dieses auch nicht ohne weiteres auf die Kommunalwahlen im nächsten Jahr übertragen: Es spiegele aus seiner Sicht eher einen „aktuellen bundespolitischen Trend“. Die SPD im Essener Norden kenne sehr wohl die Probleme und Sorgen der Menschen vor Ort, beteuert er.
Auch Vanessa Gremer ist der Ansicht, dass es jetzt bei der Europawahl gar nicht so sehr um die Situation in den Stadtteilen gegangen sei. Immer wieder werde ihr gegenüber eher das kritisiert, was „von oben“ komme. „Wir bekommen das, was auf Bundesebene passiert, um die Ohren gehauen“, sagt sie. Oft sei die Migration ein Thema, das die Menschen umtreibe. Dabei gehe es keinem um den „türkischen Nachbarn mit Job und Familie“, sondern zum Beispiel um die gefühlte Ungerechtigkeit bei der Behandlung von Straftätern mit Migrationshintergrund. „Die Oma, die ihre GEZ nicht zahlen kann“, werde härter bestraft als der ausländische Kriminelle, heiße es dann oft.
Als am Pfingstsonntag die Nachricht von der Schießerei auf dem Fußballplatz in Altenessen kursiert sei, habe sie im Biergarten gesessen, unter lauter „gut situierten Mittelständlern“. Doch auch da sei der Tenor derselbe gewesen, und die Wortwahl so drastisch, dass sie die Gespräche nicht zitieren wolle.
Politiker sehen Migration im Essener Norden als einen Grund für wachsende Unzufriedenheit
Eine allgemeine Unzufriedenheit beobachte sie auch im Bildungsbereich, sagt Vanessa Gremer: Einige Eltern hätten das Gefühl, dass etwa der Sprachunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund zulasten der Förderung ihrer Kinder gehe. Wieder werde also das Thema Migration relevant.
Ähnlich sieht das Klaus Hagen, stellvertretender Bezirksbürgermeister für den Stadtbezirk 5 und CDU-Ratsherr für Altenessen-Nord, der sich zwar über die 24,16 Prozent freuen kann, mit denen die CDU in Altenessen-Nord gewonnen hat, aber ebenfalls mit Sorge Richtung Kommunalwahl blickt.
Migration sei das große Thema, das nach dem Empfinden vieler Menschen nicht „auf ein vernünftiges Maß zurechtgeruckelt würde“. Die Herausforderungen und Probleme im Zusammenhang mit der Zuwanderung würden sich in Essen eben vor allem im Norden bemerkbar machen, sagt er. Doch wirklich verschlimmert habe sich die Situation erst mit Corona, Krieg und der drastischen Teuerung, die speziell für finanzschwache Menschen, von denen es im Norden nun mal einige gebe, besonders belastend geworden sei.
Er verweist darauf, dass die AfD in der Gesamtstadt „nur“ 13,34 Prozent der Stimmen erhalten habe und schließt daraus: „Die Stadt und der Norden sind im Moment zwei Paar Schuhe.“ Für die Bezirksvertretung berge das Ergebnis dennoch eine Bedrohung, sollte es sich zur Kommunalwahl wiederholen. „Wir werden alle mal in Ruhe überlegen müssen: Wie können wir das noch drehen?“ Denn mit der AfD wolle man definitiv nicht zusammenarbeiten, sondern idealerweise weiterhin in einer „stabilen Koalition“ mit der SPD.
SPD-Ratsherr Schliffke will sich um Einzelhandel und Verkehrssituation in Vogelheim kümmern
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In absoluten Zahlen sei der Vorsprung der AfD in Vogelheim, das immer eine Bastion der SPD war, letztlich gar nicht so groß, sagt Detlef Schliffke. Aber: „Verloren ist verloren.“ Seinem Engagement tue das allerdings keinen Abbruch: „Man muss weitermachen, den Kopf nicht in den Sand stecken.“ Er, Vogelheimer durch und durch, sei weiterhin jeden Tag im Stadtteil unterwegs und widme sich aktuell vor allem den Themen Einzelhandel und Verkehr. „Wir sind dran, und werden auch weiter Politik für die Leute vor Ort machen.“
Ob das die große Unzufriedenheit, von der alle Befragten sprechen, beseitigen kann? Die AfD jedenfalls stoße auf Zustimmung, weil sie zu komplexen Fragen vermeintlich einfache Antworten parat habe, so Klaus Hagen. „Viele Leute sagen sich: Jetzt muss mal jemand kommen, der etwas anders macht.“
Sicher werde es in den Reihen der Partei in den nächsten Tagen auch kämpferische Stimmen geben, ebenso auch Schönrederei, vermutet Vanessa Gremer. Sie persönlich aber verspüre mit Blick auf die bevorstehenden Kommunal- und Bundestagswahlen im nächsten Jahr vor allem ein Gefühl: Angst.
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