Essen. Vor Ort gibt es viel Lob für die „Lotsen“-Funktion der Gesundheitskioske. Doch im neuen Gesetz kommen diese plötzlich nicht mehr vor.
Als es damals in Essen losging, ziemlich genau zwei Jahre ist das jetzt her, da konnte es Karl Lauterbach kaum erwarten: Schon drei Tage vor der offiziellen Eröffnung schaute der Bundesgesundheitsminister im nagelneuen „Gesundheitskiosk“ in der Altenessener Badeanstalt vorbei. Nun gut, es war Landtagswahlkampf und er unterwegs mit SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty, aber auch sonst lobte Lauterbach das Angebot über den grünen Klee. Er sei, ließ er sich vernehmen, „von der Konzeption überzeugt“. Und er appellierte, man möge diese gute Idee „freihalten vom Wettbewerb der Krankenkassen – und freihalten von Parteipolitik.“
Doch ausgerechnet Lauterbach macht jetzt einen Rückzieher. Und will vom Kiosk nichts mehr wissen.
Essens Caritas-Direktor wundert sich: „Diese Entscheidung können wir nicht nachvollziehen“
Jedenfalls taucht diese Einrichtung, die den Menschen ihren Weg durchs Dickicht des deutschen Gesundheitssystems weisen soll, im Referentenentwurf des neuen – Achtung, Wortungetüm – Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) gar nicht mehr auf. Es heißt, die FDP sei daran nicht ganz unbeteiligt. Was wird nun aus den beiden Einrichtungen in Altenessen und Katernberg und in all den anderen Städten, die gerade dabei sind, die Idee schätzen zu lernen?
Die erste Reaktion hier: Kopfschütteln. „Diese Entscheidung können wir nicht nachvollziehen“, sagt etwa Professor Björn Enno Hermans, Caritasdirektor in Essen und mitverantwortlich für den Betrieb der Gesundheitskioske an der Altenessener Straße und am Meybuschhof: „In Essen zeigen wir, wie wichtig die Kioske dafür sind, dass auch Menschen in benachteiligten Lebenslagen einen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem erhalten.“
Benötigt wird vor allem Rat in Fragen von Demenz und Schlaganfall sowie in der Kinderheilkunde
Rund 1200 Kunden wurden schon beraten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstehen sich als Lotsen durch ein Gesundheitssystem, das die einen noch nicht und die anderen nicht mehr verstehen: weil sie sich seufzend „zu alt für sowas“ finden oder ratlos vor dem Zuständigkeits-Wirrwarr stehen. Oder weil ihnen schlicht die Sprachkenntnisse fehlen. Die Platzierung in Stadtteilen mit vielen Zuwanderern ist jedenfalls kein Zufall: Die Mitarbeiter der Essener Gesundheitskioske sprechen gleich mehrere Sprachen und können so manche Verständigungs-Barriere überwinden. Doppelstrukturen? Auch hier widersprechen die Betreiber: Es gehe um die Vernetzung bestehender Angebote.
Mal braucht es nur etwas Zuspruch, mal werden gemeinsam Anträge ausgefüllt, mal gibt es Hinweise zu einer gesünderen Ernährung oder Informationen zu Sportkursen in der Nähe. Zudem gehen die Mitarbeiter auf Wochenmärkte und Veranstaltungen, zu Stadtteiltreffs, in Moscheen oder in Schulen und Kindertagestätten. Am häufigsten, so heißt es, wird Rat bei Demenz oder Schlaganfällen eingeholt, gefolgt von Fragen der Kinderheilkunde und zum Gesundheitssystem allgemein, zu Krankenkassen, Behörden und Pflege sowie zu Vorsorgevollmachen oder Reha-Leistungen.
Gesundheitskioske kosten nicht nur, heißt es: Die Investitionen helfen am Ende auch zu sparen
Die Arbeit kostet fraglos Geld, aber sie kostet nicht die Welt, betont Andreas Bierod, Geschäftsführer der gemeinnützigen Betreibergesellschaft „Gesundheit für Essen“: „Wir haben das Glück, dass in Essen die Finanzierung durch die Stadt Essen und die Krankenkassen jeweils zur Hälfte gestemmt wird. Diese Aufteilung halten wir für sinnvoll und richtig, denn die Themen, die im Gesundheitskiosk behandelt werden, betreffen nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die Daseinsfürsorge in der Stadt“. Erst recht in einer Gegend, in der binnen kürzester Zeit zwei Krankenhäuser ihre Pforten dicht machten.
Mit der in einer früheren Version des „Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes“ genannten Summe von 400.000 Euro im Jahr komme man hin, wenn die erbrachten Leistungen umsatzsteuerfrei werden. „Diese Investitionen lohnen sich“, betont Bierod, „weil Menschen, die über eine bessere Gesundheitskompetenz verfügen, das Gesundheitssystem insgesamt weniger kosten. Sie werden schneller gesund oder gar nicht erst schwer krank.“
Das sieht man beim Mitfinanzier, der AOK, offenbar genauso: „Die Gesundheitskioske richten sich an all jene Menschen, die besondere Unterstützung benötigen, um sich in unserem komplexen Gesundheits- und Sozialsystem zurechtzufinden“, betont Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. Er finde es „bedauerlich, dass ein Gesetz, dessen Zielsetzung es war, die medizinische Versorgung in den Kommunen zu stärken, in der politischen Abstimmung so sehr geschliffen wurde, dass es mit der ursprünglichen Ambition nur noch wenig gemein hat.“ Und obwohl sich andere Kassen vornehm zurückhalten, verspricht Mohrmann: „Wir machen weiter!“
Lauterbachs 1000 Gesundheitskioske bundesweit waren zu viel des Guten, da sind sich alle einig
Und es müssten ja auch nicht jene großspurig angekündigten 1000 Gesundheitskioske sein, die Lauterbach einst bundesweit ins Auge fasste: „Das entsprach nie dem tatsächlichen Bedarf und war zu hoch gegriffen“, meint AOK-Vize Mohrmann. „Wenn wir die Gesundheitskioske nur in den Stadtvierteln und ländlichen Regionen errichten, wo sie wirklich gebraucht werden, genügen 50 bis 100 Einrichtungen in ganz Deutschland.“
Ins gleiche Horn bläst man auch im Rathaus: 1000 Kioske, das hätte acht bis zehn dieser Einrichtungen in Essen bedeutet. Die würden definitiv nicht gebraucht, weiß Sozialdezernent und Stadtdirektor Peter Renzel. Die zwei in Altenessen und Katernberg aber sollen bleiben. Er setzt auf den parlamentarischen Prozess und die alte Erkenntnis, dass noch kein Gesetz so verabschiedet wurde, wie es als Referentenentwurf auf den Tisch kam. Und er kann sich ein bisschen Spott für den Bundesgesundheitsminister nicht verkneifen: „Ankündigungsminister Lauterbach hat sich nicht durchsetzen können, jetzt muss die Politik es richten.“