Essen. Die gut gemeinte Abstimmung zeigte, dass sich das Wesen einer Stadt nicht auf einen Punkt reduzieren lässt. Auf Vielfalt zu setzen, ist richtig.
Manchmal entwickeln nebensächlich erscheinende Vorgänge eine erstaunliche Eigendynamik. Der Schriftzug auf dem Handelshof etwa entscheidet sicherlich nicht über das Wohl und Wehe der Stadt, umso bemerkenswerter daher, mit welcher Emotionalität, teils auch Aggressivität viele Bürger zuletzt diskutierten und wie sich das Thema immer mehr zu einer Frage der Essener Identität hochschaukelte. „Wer sind wir und wenn ja, wie viele?“, um es mit dem leicht abgewandelten ironischen Buchtitel eines Talkshow-Philosophen zu sagen.
Tja, wenn diese Frage so einfach zu beantworten wäre. Tatsächlich ist Essen – wie andere vergleichbare Großstädte auch – viel zu vielfältig, um die Dinge auf einen einzigen Punkt zu reduzieren, was die gut gemeinte Abstimmung der Stadtverwaltung ja eindrucksvoll unterstrichen hat. Fast eine Zweidrittel-Mehrheit der immerhin über 25.000 Teilnehmer verspürte keine Neigung, ein Thema zu vereinfachen, das nun mal kompliziert ist.
Mühelos ließen sich ein halbes Dutzend weitere Attribute finden
Das soll nicht heißen, dass vollkommen falsch lag, wer für „Essen – die Folkwangstadt“ oder „Essen – voller Energie“ votierte. Doch ließen sich mühelos ein halbes Dutzend weiterer Attribute finden, die ebenfalls Identifikation stiften können: Sportstadt, Ruhrstadt, grüne Stadt, Zollverein-Stadt wären Beispiele, selbst Krupp-Stadt hätte wegen der baulichen Zeugnisse und der Verankerung im kollektiven Gedächtnis weiterhin seine Berechtigung, und als Stadt der architektonischen Moderne wird Essen sogar notorisch unterschätzt. Auch inoffizielle Hauptstadt der Region kann eigentlich nur Essen sein.
Doch was immer man nennen mag, es ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Auch die „Einkaufsstadt“ war ja nie so zu verstehen, dass Einzelhandel die Essener Identität ist. Der eingängige Slogan, der nicht zufällig so lange Bestand hatte, war schlicht gutes Marketing, das auch deshalb funktionierte, weil eine reale Grundlage dahinterstand. Nicht nur die Essener selbst, auch Kunden aus dem Münsterland, Bergischen Land und anderen Nachbarregionen und Nachbarstädten strömten in die Innenstadt, wo es Geschäfte gab, die sie daheim vermissten. Ansonsten war Essen damals im eigenen und im fremden Verständnis vor allem dies: eine Industriestadt. Mindestens ein Jahrhundert lang war das übrigens keineswegs nur anrüchig, sondern für viele Menschen eine Verheißung.
Abstimmung und Streit haben letztlich doch einiges gebracht
Wenn man unbedingt auf dem Dach des Handelshofes weiterhin Botschaften vermitteln will, ist es jedenfalls der richtige Weg, dort auf die real existierende Essener Vielfalt zu setzen, wie es nun offenbar geschehen soll. Insofern haben die Abstimmung wie auch der gesamte Streit letztlich doch einiges gebracht, wozu übrigens die bei jungen Essenern beliebte Satire-Seite „Essen diese“ wesentlich beitrug.
Auch wir als Redaktion erhielten eine rekordverdächtige Zahl an Zuschriften zum Thema Handelshof-Schriftzug. Zwar stimmte das Maß an Sarkasmus, das einem da häufig entgegenschlug, ein bisschen traurig, doch selbst polemische Kritik zeigt zumindest eines: Den Essenern ist Essen nicht gleichgültig.
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