Essen. Das Schauspiel Essen ist seit über 130 Jahren männlich geprägt. Das ändert sich mit dem Intendantinnen-Duo Selen Kara und Christina Zintl.

Sie gehen jetzt gemeinsam zu Werke. Sie haben beide zwei Kinder und legen neben dem Theater großen Wert auf die Familie. Viel mehr geht gerade nicht. Kein Sport, keine Freunde treffen. Selen Kara und Christina Zintl übernehmen erstmals in der rund 130-jährigen Geschichte des Essener Theaters als weibliche Doppelspitze die Intendanz des hiesigen Schauspiels. Vielfalt wollen sie auf und hinter die Bühne bringen, ein Grillo-Theater für Menschen verschiedener Herkunft, verschiedenen Alters, Bildungsstands und Geschlechts anbieten, eben mehr und konsequenter Diversität umsetzen.

Intendantin Selen Kara führt ein Umweg zum Theater

Sie kommen gerade aus dem Büro. Nicht nur die Leitung des Hauses hält sie auf Trab. Selen Kara führt Regie bei der Eröffnungspremiere von „Doktormutter Faust“, Christina Zintl betreut als Dramaturgin „Der gute Mensch von Sezuan - Die Ware Liebe“. Doch vor allem muss für die Kinder - Karas Mädchen sind 5 und 7 Jahre, Zintls Jungs 6 und 9 Jahre, gesorgt sein.

Ob sie die bevorstehenden Premieren mehr stressen oder die Versorgung der Kinder können sie nicht sagen. „Das ist etwas komplett anderes. Und warum werden das eigentlich nie Männer gefragt. Wir teilen uns die Arbeit“, meint Selen Kara. Als Musiker und Dramaturg sind sie auch beruflich an der Seite ihrer Frauen. Doch für die Organisation des Alltags gehören auch Babysitter und Großeltern dazu.

Selen Kara  und Christina Zintl haben Autorin Fatma Aydemir mit ins Boot geholt. Sie hat „Doktormutter Faust“ frei nach Goethes „Faust“ für die Eröffnungspremiere am Schauspiel Essen geschrieben.
Selen Kara und Christina Zintl haben Autorin Fatma Aydemir mit ins Boot geholt. Sie hat „Doktormutter Faust“ frei nach Goethes „Faust“ für die Eröffnungspremiere am Schauspiel Essen geschrieben. © Bahar Kaygusuz

Selen Karas Großeltern haben in ihrem Leben eine ebenso wichtige Rolle gespielt. Sie kamen in den frühen 1960ern als Gastarbeiter aus der Türkei nach Essen-Katernberg. Sie ist in Heiligenhaus aufgewachsen, hat aber oft die Wochenenden im Essener Norden verbracht. Wenn sie heute durch die Stadt läuft, begegnen ihr alte Freunde und Erinnerungen. „Es gab damals keine Berührungspunkte zum Theater“, berichtet sie.

Mal abgesehen von Besuchen mit der Schule. „Maria Stuart“ hat sie mit dem Deutsch-Leistungskurs im Grillo-Theater gesehen. „Meine Freundinnen und ich sind in der Pause gegangen und zu McDonald’s gefahren, weil uns das Theater nicht angesprochen hat“, erzählt sie dieser Zeitung. Heute gehört Sabine Osthoff, Hauptdarstellerin aus Schillers Drama, zum ersten Ensemble der Co-Intendantin.

Dem Weg zur Bühne hat es offensichtlich keinen Abbruch getan. Sie studierte Theater- und Medienwissenschaft in Bochum, wurde nach einem Übersetzungsjob am dortigen Schauspielhaus Regieassistentin - unter anderen bei Roger Vontobel, Anselm Weber, Christina Paulhofer und David Bösch. »Blaubart – Hoffnung der Frauen« von Dea Loher war ihr Debüt als Regisseurin. Ab 2014 arbeitete sie freischaffend am Theater Bremen, Staatstheater Nürnberg, Nationaltheater Mannheim und am Schauspiel Bern. Ihre Inszenierung „I love you, Turkey“ wie die musikalischen Abende „Istanbul“ und „Mit anderen Augen“ wurden gefeiert.

Intendantin Christina Zintl hat ein Abo für die Bühne begeistert

Christina Zintls Weg war geradliniger: „Ich hab’ mit 14 ein Abo des Bonner Theaters geschenkt bekommen – und das mit meiner besten Freundin gemeinsam vier Jahre behalten, alles rauf- und runter geguckt. Ich weiß nicht, wo ich gelandet wäre, wenn ich diesen Zugang nicht gehabt hätte.“ Weit bevor sie die Begeisterung für das Theater zum Beruf machte, lernte sie Essen als Kind kennen. Man fuhr in die Ruhrgebietsmetropole, weil Essen „die“ Einkaufsstadt war, oder zum Weihnachtsmarkt. Das war ein Erlebnis.

Später studierte sie Szenische Künste in Hildesheim und in Aix-en-Provence, war Künstlerische Leiterin des Stückemarkts und Dramaturgin des Berliner Theatertreffens, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Bayerischen Staatsschauspiel, am Staatstheater Nürnberg, wo sie Selen Kara kennenlernte. Zuletzt war sie Dramaturgin und Mitglied des Leitungsteams in einem Langzeitprojekt zur Diversifizierung am Staatstheater Darmstadt.

Der Kontakt zwischen den beiden Frauen ist nicht abgerissen. Sie haben oft gesprochen über die Möglichkeit, das Theater in seiner Hierarchie zu verändern, Vielfalt zu schaffen und neue Publikumsschichten zu gewinnen - auch mit ihren Männern, dem Musiker Torsten Kindermann und dem Dramaturgen Maximilian Löwenstein.

Ihnen wurde klar: Das geht nur gemeinsam. „Ich war es leid, an Theatern, an denen ich engagiert war, das Aushängeschild für Diversität zu sein“, betont Selen Kara. Christina Zintl fehlte für Diversität an Theatern und bei Festivals oft die ausreichende Zeit für die Umsetzung. „Das geht nur, wenn man es selber macht“, befinden beide. Die Bewerbung auf die Leitungsposition in Essen ist die logische Konsequenz.

Umzug nach Essen, um die Basis für ihr Theater kennenzulernen

Was sie aneinander schätzen, ist ohne Zögern umrissen: „Dass Du vielseitig aufgestellt bist und empathisch mit Menschen umgehst. Dass Du in den aktuellen Diskursen drin bist“, sagt Selen Kara über ihre Mitstreiterin. Christina Zintl lobt Selen Karas empathischen Inszenierungsstil und die Sicherheit, die sie für alle ausstrahlt. „Deine Arbeiten sind sehr rund, sehr stimmig. Aber alle haben den Freiraum, sich einzubringen“, sagt sie. „Ich schätze Deine Entspanntheit.“

Die brauchen beide. Denn sie wollen inhaltlich ein neues deutsches Theater bauen. Ein großes Vorhaben, das ihrer Anwesenheit bedarf. Schließlich wollen sie die Menschen kennenlernen, für die sie Theater machen. „Das ist unsere Basis“, so Christina Zintl. In den letzten Monaten sind sie umgezogen von Bochum nach Heisingen, von Darmstadt nach Rüttenscheid. Wohnungen sind gefunden, Kita, Grundschulen, Gymnasium und die besten Spielplätze. Dem Nachwuchs wird dort auch mal erklärt, wer Hamlet ist, dass am Ende alle tot sind und warum man das Stück auf die Bühne bringen sollte. Da ist man schnell bei den Eltern zwischen 30 und 50, die dem Theater verloren gehen, weil sie sich zunächst über die Unterbringung und Erziehung der Kinder den Kopf zerbrechen müssen.

Der erste Spielplan für die unterschiedlichen Altersgruppen steht. Die Aufgaben sind in Produktion sowie Dramaturgie und Verwaltung aufgeteilt. Die Eröffnung der ersten Kara-Zintl-Saison im September mit einem Stückereigen rückt näher. Da ist sich das zweite Intendantinnen-Duo Deutschlands seiner Gefühle wohl bewusst: „Wir haben schon Respekt“, meint Selen Kara. „Aber das Kind muss jetzt raus.“

Die Eröffnungspremieren

Die neue Intendanz startet mit einem Kennenlernen im Grillo-Theater am 9. September um 16 Uhr – mit künstlerischen Ereignissen, Gesprächen, Kaffee und Kuchen. Die Wünsche des Publikums stehen im Mittelpunkt, zum Beispiel in der 1:1-Performance „Zuhören – Speed-Dating Stadt und Theater“.

Die Kurzversion des kostenlosen Workshops zur Eröffnungsinszenierung „Doktormutter Faust“, einer Überschreibung des Goethe-Klassikers „Faust“ von Fatma Aydemir, findet am 9. September um 17 Uhr auf dem Theatervorplatz statt. Szenen werden nachgespielt und verschiedene Rollen vorgestellt. Treffpunkt ist der Haupteingang des Grillo-Theaters. Die Teilnahme am Workshop ist kostenlos.

Der Premierenreigen: „Doktormutter Faust“, 9.9., 19.30 Uhr, Grillo-Theater; „Der gute Mensch von Sezuan - Die Ware Liebe“,16.9., 18 Uhr, Grillo-Theater; „Rausch“, 23.9., 19.30 Uhr, Grillo-Theater; „Showtime“, 30.9., 19 Uhr, Casa.

Karten telefonisch unter 0201 8122 oder im Internet auf www.theater-essen.de

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