Essen. Als Jugendliche ist Selen Kara aus dem Essener Theater rausgerannt. Jetzt ist sie zusammen mit Christiane Zintl Chefin des Grillo – ein Gespräch.

Als Treffpunkt schlagen Christina Zintl und Selen Kara nicht das Grillo-Theater vor, sondern das „Unperfekthaus“ in Essens Nordcity. Vielleicht ein sprechender Name, denn noch ist offen, wie der Versuch der ersten weiblichen Doppelspitze an einem nordrhein-westfälischen Schauspielhaus aussehen wird, in Essen ihr „neues deutsches Theater“ zu etablieren. „Under construction“ (im Bau) untertiteln sie ihren Auftakt. Lars von der Gönna traf die Dramaturgin und die Regisseurin zum Antrittsgespräch ihrer Intendanz.

Was die Auslastungszahlen anbetrifft, übernehmen Sie das erfolgreichste Theater des Ruhrgebiets. Ist das herrlich – oder eine Bürde für Sie, die nachfolgen und beide zuvor noch kein Theater geleitet haben?

Christina Zintl (C.Z.): Auf jeden Fall schön. Es ist ein großes Geschenk, auch weil man daran ablesen kann: Theater ist in dieser Stadt wichtig. Das heißt nicht, dass wir uns darauf ausruhen können – unser Anspruch ist auch, neue Publikumsschichten zu gewinnen.

Wie entwickelt man einen erfolgversprechenden Spielplan für Essen?

Selen Kara (S.K.): Ganz vorn stand für uns, vom Publikum aus zu denken. Neustart heißt Kennenlernen, wir das Publikum, die Stadt – und umgekehrt. Klar, wird man als Beginnende auch gemessen werden. Das bestehende Publikum zu behalten, wird sicher einen Kern unserer Arbeit bedeuten. Aber erstmal geht es ums Ankommen und Zusammenwachsen.

Stichwort neue Publikumsschichten: Es gab von Düsseldorf bis Dortmund über die letzten 20 Jahre reichlich Versuche, Migranten und andere Nicht-Theatergänger als Publikum zu gewinnen. Nur wenig davon hat dauerhaft funktioniert. Was ist Ihr Zaubertrick, das zu ändern?

C.Z.: Wir haben viel Zeit mit Zuhören verbracht, haben viele Gruppen getroffen, den alternativen Programmbeirat „Critical Friends“ gegründet – bestehend aus Menschen, die bisher dem Theater noch nicht so verbunden sind. Punktuell erreicht man natürlich wenig, Verstetigung ist der Schlüssel. Es braucht einen langen Atem, damit Leute hier vorbeigehen und sagen „Das ist mein Theater“. Ich denke, es ist mit der Liebe zum Theater wie mit dem Lesen: Wenn man nicht früh die Möglichkeit hat, einen Zugang zu bekommen, wird es sehr viel schwieriger, dort noch hinzufinden. Wir haben im Spielplan viel Theater für alle jungen Altersgruppen. Bei den ganz Kleinen sogar ohne deutsche Sprachkenntnisse.

Wie kommt man überhaupt an Theaterfremde? Hausbesuche?

S.K.: Wir haben einen Aufruf für die „Critical Friends“ gestartet, in den sozialen Medien, im Radio. Dazu Multiplikatoren der Stadt einbezogen oder Menschen, von denen wir wissen, dass sie in diversen Vereinen arbeiten. Ich komme aus dieser Region, lebe seit 15 Jahren im Ruhrgebiet und kenne die Menschen hier, auch die „Nicht-Theatergängerinnen“ und „-gänger“. Aber dennoch müssen wir uns und unser Programm in diesem Prozess immer wieder hinterfragen.

Gucken, was klappt – und dann nachjustieren?

S.K.: Auf keinen Fall nur auf eine Karte setzen, also nur zeitgenössische Dramatik oder nur Klassiker. Es sollte im besten Falle alles nebeneinander existieren. Die Bandbreite einer so großen, vielseitigen Stadt wie Essen wünschen wir uns im Publikum.

C.Z.: Bei allen Zielen, die wir haben, um auf der Höhe der Zeit zu sein: Wir wollen, dass Theater ein Fest ist – Kunst, die man feiert!

Sie weisen selbst darauf hin, dass Sie eines von nur zwei Frauen-Duos sind, die ein deutsches Theater leiten. Muss man das heute überhaupt noch sagen, darf das noch eine Rolle spielen?

C.Z.: Ich würde mir sehr wünschen, dass das keine Rolle mehr spielt. In einer idealen Welt ohne Diskriminierungen und Machtgefälle wäre das so. Aber in der leben wir leider nicht, sondern müssen immer noch mit Geschlechter-Zuschreibungen umgehen. Wir sehen ja, wie teilweise anders auf männliche Kollegen in diesen Positionen reagiert wird.

S.K.: Anhand der Fragen oder Kommentare von außen merken wir, dass es die Menschen beschäftigt.

Am Ende zurück zu den Anfängen. Schildern Sie uns zum Schluss Ihre ersten Theatererlebnisse?

C.Z.: Ich hab’ mit 14 ein Abo des Bonner Theaters geschenkt bekommen – und das mit meiner besten Freundin vier Jahre behalten, alles rauf- und runter geguckt. Ich war Fan, auch weil ich Stadttheater im besten Sinne erlebt habe. Damals zu spüren, welche große Bedeutung so ein Theater für seine Stadt und ihre Menschen hat, das war prägend.

S.K.: Im Grillo-Theater, „Maria Stuart“ mit dem Deutsch-Leistungskurs. Meine Freundinnen und ich sind in der Pause gegangen, zu McDonald’s, weil wir das interessanter fanden (lacht). Als wir ernannt wurden, hab’ ich als Erstes gedacht: „Ich muss meinen Deutschlehrer anrufen!“ Er war damals so beleidigt, dass wir das Theater verlassen haben.

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Zur Person:

Christina Zintlkam 1980 in Bonn zur Welt. Nach einem Studium in Hildesheim arbeitete sie als Dramaturgin u.a. in München und Düsseldorf. Zuletzt war sie tätig als geschäftsführende Dramaturgin am Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg.

Selen Kara wurde 1985 in Velbert geboren. Sie studierte Theaterwissenschaft in Bochum. Am Schauspielhaus Bochum entstand ihr Liederabend „Istanbul“. Seit 2014 arbeitete sie als freie Regisseurin u. a. in Bremen, Nürnberg und Düsseldorf.