Essen. Ihre Großeltern kamen als Gastarbeiter nach Essen. Nun bildet Selen Kara mit Christina Zintl die erste weibliche Doppelspitze am Theater Essen.

Ihre Großeltern kamen in den frühen 1960ern als Gastarbeiter aus der Türkei nach Essen-Katernberg. Das Grillo war das erste Theater, das Selen Kara als Schülerin besucht hat. Mit 36 Jahren kehrt die freischaffende Regisseurin nun als erste weibliche Intendantin des Schauspielhauses nach Essen zurück.

Und nicht nur das: Zusammen mit der Dramaturgin Christina Zintl bildet sie ab der Spielzeit 2023/24 außerdem die erste weibliche Doppelspitze in der Essener Theatergeschichte.

Essens Kulturdezernent: „Weg von den klassischen hierarchischen Strukturen“

Zwei Frauen für ein Haus – die Besetzung, die der Aufsichtsrat der Theater und Philharmonie am Donnerstag einstimmig beschlossen hat, soll in vielerlei Hinsicht ein Zeichen sein: „Weg von den klassischen hierarchischen Strukturen“, sagt Kulturdezernent Muchtar Al Ghusain. Mehr Teamarbeit, Transparenz, Mitbestimmung und Diversität stehen außerdem auf der Agenda. Schlagwörter, die momentan eigentlich in keiner Stellenbeschreibung deutscher Bühnenangehöriger fehlen dürfen.

In Essen will man sie nun konsequent umsetzen. Das Duo Kara/Zintl bilde – mit Ausnahme der Interims-Dramaturgin Ilka Boll – schließlich die erste reguläre weibliche Intendanz im Reigen der bislang 25 Theaterchefs, betont Al Ghusain. Der Migrationshintergrund der neuen Intendantin belege außerdem glaubhaft, „das die Gesellschaft durchlässiger geworden ist“, so der Dezernent.

Die Vielfalt soll im Schauspiel Essen zur Normalität werden

Gleichwohl will sich das Duo Kara/Zintl bewusst nicht den Stempel des „migrantischen oder postmigrantischen Theaters“ aufdrücken lassen. Vielmehr wolle man für Essen „ein neues deutsches Theater – ein Grillo für alle“ ausrufen. Gemeint ist damit vor allem, dass man die althergebrachte Unterscheidungen in sogenannte „Biodeutsche“ und Zugewanderte aufheben und die Vielfalt stattdessen zur Normalität erklären will. Kara nennt es „die Sehnsucht nach einem neuen Wir-Gefühl“. Das Ensemble dürfte in Zukunft entsprechend divers aufgestellt sein – was Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Geschlecht angeht. Welche Mitglieder des bisherigen Ensembles künftig noch dazu zählen werden, ist die Frage. Einen „harten Cut“ wolle man allerdings vermeiden, betont Kara, die bislang noch kein Haus geleitet hat und damit auch keinen eigenen Stab mit nach Essen bringt.

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Wie sich die neue Personalpolitik auf den Spielplan auswirkt, dürfte ebenfalls spannend werden. „Wir wollen den klassischen Kanon behalten, aber durch neue Genres und Formate erweitern und bereichern“, sagt Christina Zintl. Die 41-jährige Dramaturgin stammt ebenfalls aus NRW, hat als Dramaturgin an verschiedenen Theatern vom Düsseldorfer Schauspielhaus bis zum Staatstheater Nürnberg gearbeitet, war langjährige Künstlerische Leiterin des Stückemarkts und Dramaturgin des Theatertreffens in Berlin.

Vor allem im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters wolle man Schwerpunkte setzen. Nicht nur bei den jungen Zuschauern soll dabei auch der Aspekt der Übersetzung – beispielsweise durch Übertitel oder mehrsprachige Begleittexte – für mehr Barrierefreiheit sorgen. Einmal jährlich sei ein Großprojekt mit Essener Schulen geplant. Außerdem will man das bislang eher theaterferne Publikum beispielsweise mit einem Bühnentruck ansteuern, der durch Essener Stadtteile fährt. Ein Schwerpunkt der geplanten Aktionen soll dabei der Essener Norden sein.

In Zukunft soll es mehr musikalische Programme im Schauspiel Essen geben

Leichtere Zugänglichkeit versprechen auch die musikalischen Programme, die Selen Kara in Aussicht stellt. „Musik bildet noch einmal einen anderen Zugang“, sagt die Regisseurin, die in Bochum lebt und für das dortige Schauspielhaus Bochum in dieser Saison unter anderen einen sehr erfolgreichen Liederabend zum Thema Blindheit „Mit anderen Augen“ herausgebracht hat.

Aber auch der Aspekt der Publikums-Beteiligung ist für Selen Kara und Christina Zintl wesentlich. Gegründet werden soll unter anderem eine Gruppe der „Critical Friends“. Geplant ist zudem die Entwicklung einer eigenen App als „digitale Bühne für die Stadt“, so Zintl. Hier sollen Menschen live aus ihren Wohnzimmer streamen oder andere Projekte vorstellen dürfen.

Noch ist vieles davon Zukunftsmusik. In den kommenden Wochen und Monaten sollen dann konkrete Namen und Projekte vorgestellt werden. Ohnehin sei dieses „neue deutsche Theater“ in Essen ein Prozess bei dem sich womöglich „auch das Publikum mitverändert“, sagt Christina Zintl.