Essen. Zum 100. Geburtstag der Glashütte blickt Eigentümer Verallia in die Zukunft: Die Glasproduktion soll umweltfreundlich werden. Eine Mammutaufgabe.

Der 4. August 1923 war für das damals noch eigenständige Karnap ein Datum, das den Essener Stadtteil bis heute mitprägt. An diesem Tag, also vor fast genau 100 Jahren, wurde die Glaswerke Ruhr AG vom Großindustriellen Hugo Stinnes gegründet. Nach einer wechselvollen Geschichte mit vielen Besitzern und Namen gehört die Glashütte heute zur Verallia Deutschland AG.

Etwas hat sich in der 100-jährigen Geschichte nicht verändert: Dem Standort eine Zukunft zu geben, gehört damals wie heute zu den ständigen Herausforderungen. Die aktuelle ist klar umrissen: Das Werk wird in den kommenden Jahren den Kohlendioxidausstoß drastisch senken müssen, um die gesteckten Klimaziele zu erreichen. Dirk Bissel, der Vorstandsvorsitzende von Verallia Deutschland, zeigt den Fahrplan auf: „Bis zum Jahr 2045 wollen wir komplett CO2-frei sein.“ In einem Zwischenschritt sollen es bis 2030 bereits 46 Prozent weniger des klimaschädlichen Treibhausgases sein.

Ukraine-Krieg beschleunigt den Umbau auf erneuerbare Energien

Für eine Glashütte ist das eine Mammutaufgabe. Denn um Glas herzustellen, braucht es vor allem eines: enorm viel Energie. Zu Stinnes’ Zeiten deckte die damals hoch­mo­der­ne Fa­brik ihren En­er­giehunger mit der Koh­le aus der be­nach­bar­ten Ze­che Ma­thi­as Stin­nes. Heute werden die drei Schmelzwannen mit Erdgas geheizt. 1600 Grad Celsius herrschen in ihrem Inneren. Auch wenn das Unternehmen nicht öffentlich sagt, wie viel Erdgas jedes Jahr in der Hütte verbrannt werden, so dürfte Verallia auf jeden Fall zu den größten Gasverbrauchern der Stadt gehören.

Glühend heiß kommen die Flaschen aus der Produktion. Für das Schmelzen des Glases braucht es 1600 Grad.
Glühend heiß kommen die Flaschen aus der Produktion. Für das Schmelzen des Glases braucht es 1600 Grad. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Es ist aber nicht nur der selbstgesteckte Klimafahrplan, der das Unternehmen veranlasst, Erdgas in der Zukunft komplett zu ersetzen. Auch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, die drohende Gasknappheit und die explodierenden Preise haben dies bestätigt. „Die Ukraine-Krise war ein Beschleuniger. Wenn es etwas Gutes in dieser Krise gab, dann sicher die Erkenntnis, dass man energetisch unabhängiger wird“, betont Bissel.

Wo heute noch Erdgas eingesetzt wird, sollen in Zukunft Strom und Wasserstoff die Energie für die Glasproduktion liefern. Um CO2-frei zu sein, müssen beide freilich aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Bissel wirbt vor allem in Richtung Politik darum, dass dies ein Prozess ist, der Zeit und verlässliche Zusagen braucht. „Uns muss niemand bekehren, das Bewusstsein dafür ist da. Aber wir müssen ausprobieren können.“ Daher sei Pragmatismus gefragt.

Glashütte setzt ab 2024 Kokereigas aus Bottrop ein

Vorstandsvorsitzender Dirk Bissel im Gespräch.
Vorstandsvorsitzender Dirk Bissel im Gespräch. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Das Ausprobieren beginnt für das Verallia-Werk im kommenden Frühjahr. Dann wird die Glashütte erstmals Kokereigas einsetzen. Das kommt aus der nahe gelegenen Kokerei in Bottrop. Die 3,5 Kilometer Pipeline von dort bis nach Karnap baut das Essener Unternehmen Open Grid Europe. Kokereigas ist ein Abfallprodukt bei der Verkokung. Bislang wird es in Bottrop großteils abgefackelt. Mit dem Einsatz des Gases in der Glasproduktion kann so ein guter Teil CO2 eingespart werden.

Für Verallia ist das Kokereigas deshalb ein wichtiger Schritt, weil es einen großen Anteil Wasserstoff enthält. „Damit können wir testen, wie sich Wasserstoff in der Produktion verhält“, sagt Bissel. In diesem Maße sei dies ein Novum in der Behälterglasindustrie. Gelingt dies, ist der zweite Schritt hin zu reinem Wasserstoff möglicherweise ein kleinerer.

Die Marke Ruhrglas, hier auf dem Lkw zu lesen, erreichte landesweit Bekanntheit.
Die Marke Ruhrglas, hier auf dem Lkw zu lesen, erreichte landesweit Bekanntheit. © Verallia

Klar ist: Wenn die Hütte einst auf grünen Wasserstoff umgestellt werden soll, braucht es auch die Infrastruktur dafür. Das heißt: Erstens muss genügend von dem Energieträger vorhanden sein. Und zweitens braucht es ein entsprechendes Pipeline-System in der Region. Bissel sieht Essen im Verallia-Werkverbund dabei weit vorn: „Wir genießen hier den Rückenwind der Stahlindustrie. Das ist ein echter Vorteil.“ Bissel schaut deshalb auch nicht mit Neid nach Duisburg, wo Thyssenkrupp für die Umstellung seiner Produktion auf grünen Stahl eine halbe Milliarde an Subventionen erhält. „Uns nützt das auch. Für ein Werk wie unseres mit 450 Mitarbeitern würde niemand extra eine Wasserstoffpipeline bauen“, weiß Bissel.

RWE liefert grünen Strom

Ein großer Teil der Energie der Glashütte soll in Zukunft auch durch Strom gedeckt werden. Dafür hat sich Verallia ab 2025 einen Langzeitvertrag mit dem Essener RWE-Konzern gesichert. Der Strom soll aus einem Offshore-Windpark kommen. „Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir aber noch mehr grünen Strom, deshalb arbeiten wir weiter daran“, so Bissel. Die Umstellung des Werkes auf grünen Strom und Wasserstoff wird ohnehin Schritt für Schritt erfolgen. Die Schmelzwannen werden je nach Lebenszyklus in den kommenden Jahren umgerüstet. Eine Wanne hält etwa 15 Jahre.

Die Glashütte in Karnap wurde vor 100 Jahren unter dem Namen Glaswerke Ruhr AG gegründet. In Spitzenzeiten arbeiteten dort rund 5000 Menschen.
Die Glashütte in Karnap wurde vor 100 Jahren unter dem Namen Glaswerke Ruhr AG gegründet. In Spitzenzeiten arbeiteten dort rund 5000 Menschen. © Verallia

Wie viel Geld Verallia für die Transformation braucht, will Bissel nicht sagen. Dass es sich nicht um kleine Summen handelt, liegt auf der Hand. Die spannende Frage wird sein, ob sich trotz der enormen Investitionen weiter Geld verdienen lässt. Verallia stehe im internationalen Wettbewerb. Für Glas werde daher keiner mehr bezahlen, nur weil es „grün“ ist. Bissel betont: „Wir müssen das so schaffen. Entweder wir verdienen damit Geld oder es funktioniert nicht.“

Auszug aus der Geschichte der Glashütte

  • Die Glaswerke Ruhr AG wurde 1923 gegründet. Sie produzierte ab 1927 zunächst Hohlkörper aus Pressglas. Der Firmenname Ruhrglas in Verbindung mit gekreuztem Schlegel und Schwert wird zu ihrem Markenzeichen.
  • Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Werk stark zerstört, wurde nach 1945 wieder aufgebaut. Mitte der 1950er Jahre standen rund 5000 Beschäftigte in Lohn und Brot. 1956 fusionierten die Glaswerke mit den Steinkohlenbergwerken Mathias Stinnes AG. Nach mehreren Besitzerwechseln werden die Glaswerke Ruhr AG im Jahr 1970 in VEBA Glas AG umbenannt. 15 Jahre später geht VEBA Glas an die Stinnes AG. Der Name Ruhrglas kehrt zurück.
  • 1988 wurde das Essener Werk von der Oberland Glas AG übernommen und ging schließlich 1991 in die Compagnie de Saint-Gobain über. Seit 2000 firmierte das Unternehmen unter dem Namen Saint-Gobain Oberland AG. 2015 wird die Verpackungsglas-Sparte der Saint-Gobain Gruppe verkauft und selbstständig. 2017 erfolgt die Namensänderung in Verallia Deutschland AG. Nach Glaswerke Ruhr AG, Glaswerke Ruhrglas AG, Veba Glas AG, Glaswerke Essen-Karnap GmbH, Ruhrglas AG, Oberland Glas AG, Saint-Gobain Oberland AG ist dies der aktuelle Stand nach einer wechselvollen Namensgeschichte.
  • Verallia Deutschland hat ihren Sitz im schwäbischen Bad Wurzach. Das Unternehmen produziert Flaschen und Gläser für alle Getränkearten sowie Nahrungs- und Genussmittel. Das Essener Werk verlassen täglich rund drei Millionen Flaschen. Neben Essen gibt es Standorte in Bad Wurzach, Neuburg an der Donau und Wirges. Verallia Deutschland ist Teil der Verallia-Gruppe - dem weltweit drittgrößten Hersteller von Glasverpackungen für Getränke und Lebensmittel.