Essen. Mitte März schon spielten die Stadtwerke den Erdgas-Engpass gedanklich durch. Doch erst das Massaker in Butscha macht das Szenario brandaktuell.

Als die Karnaper Glashütte vor ein paar Jahren für viel Geld eine ihrer Schmelzwannen sanierte, da wurde bei gleicher Gelegenheit auch die Befeuerung von Öl auf Gas umgestellt. Was der Umwelt seither messbar nutzt, wird man in der oberschwäbischen Zentrale des Glas-Herstellers Verallia dieser Tage womöglich schwer bereuen. Denn lauter als je zuvor diskutiert Deutschland ein mögliches Gas-Embargo, das viele Industriebetriebe, auch die Essener Glas-Produktion, wohl ins Mark träfe. Was Verallia dazu sagt? Man bittet um Verständnis: nichts.

Wo Essens Erdgas verbraucht wird

Gemessen an der Deutschland-Statistik hat die Stadt Essen einen eher untypischen Gasverbrauch, wie eine Erhebung der Stadtwerke offenbart.

So werden in Essen 67 Prozent des Erdgases in privaten Haushalten verbraucht, deutschlandweit sind es nur 31 Prozent.

Gerade mal vier Prozent der 3,5 Milliarden Kilowattstunden Erdgas nutzt Essens Industrie. In ganz Deutschland liegt der Anteil bei 36 Prozent.

Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sorgen bundesweit für zwölf Prozent des Erdgas-Verbrauchs. In Essen liegt der Anteil doppelt so hoch.

So bleibt es an Peter Schäfer, behutsam darauf hinzuweisen, dass wie so vieles andere auch die Herstellung von Flaschen, Marmeladen- und Gurkengläsern leider nicht zu den „geschützten“ Produktionszweigen zählt. Und also im Falle eines möglichen Gas-Notstands von einem Lieferstopp nicht verschont bliebe.

Schon vor dreieinhalb Wochen hatte der Essener Stadtwerke-Vorstand das Vorgehen bei einer solchen Mangellage beschrieben. Wer damals noch gelangweilt abwinkte, hört nach dem Massaker im ukrainischen Butscha und den dadurch befeuerten Ausstiegs-Debatten wohl genauer hin. Der Oberbürgermeister jedenfalls mahnt bereits: „Das ist ein realistisches Szenario.“

Stadtwerke-Vorstandschef Peter Schäfer: „Ich habe den Eindruck, dass dem Bundeskanzler wie auch dem Bundeswirtschaftsminister schon sehr genau bewusst ist, dass ganz erhebliche volkswirtschaftliche Konsequenzen entstehen, wenn Deutschland in sehr kurzer Frist auf russisches Erdgas komplett verzichtet.“
Stadtwerke-Vorstandschef Peter Schäfer: „Ich habe den Eindruck, dass dem Bundeskanzler wie auch dem Bundeswirtschaftsminister schon sehr genau bewusst ist, dass ganz erhebliche volkswirtschaftliche Konsequenzen entstehen, wenn Deutschland in sehr kurzer Frist auf russisches Erdgas komplett verzichtet.“ © Funke Foto Service | Sebastian Konopka

Ernsthafter denn je werben Stadt und Stadtwerke dafür, freiwillig Energie zu sparen

Darum auch werben Stadt und Stadtwerke jetzt ernsthafter denn je dafür, Energie zu sparen: Weg mit der Couch von den Heizkörpern, nächtens die Heizung runterdrehen und die Faustformel von sechs bis sieben Prozent weniger Verbrauch pro Grad Raumtemperatur beherzigen – solche Tipps gelten plötzlich nicht mehr als Alle-Jahre-wieder-Appelle zugunsten des eigenen Geldbeutels. Sie stimmen vielmehr darauf ein, dass es ernst werden könnte mit der Energieversorgung in Herbst oder Winter.

In Essen werden ziemlich genau zwei Drittel, also 67 Prozent der etwa 3,5 Milliarden Kilowattstunden Erdgas in Privathaushalten verbraucht. Weitere 24 Prozent, so ließ man dieser Tage die Spitzen der örtlichen Politik wissen, fließen für Gewerbe, Handel und Dienstleistungen durch die Leitung, 4 Prozent für die Industrie und 3 bzw. 2 Prozent für Fernwärme und Stromversorgung.

Ein Großteil im geschützten Bereich: Privathaushalte, Krankenhäuser, Heime, Schulen

Logische Schlussfolgerung: Wenn nur die große Masse der Privatkunden sich freiwillig ein bisschen am Riemen risse – was angesichts der Preise auf Rekordhoch ohnehin geboten scheint –, ließen ich die volkswirtschaftlichen Schäden deutlich in Grenzen halten, sollte man bei ausbleibenden Lieferungen gezwungen sein, das Gas zu rationieren.

Bei den Privathaushalten kommt ein solcher zwangsweiser Lieferstopp, und sei es stundenweise, schon deshalb nicht in Frage, weil dies erstens technisch nicht funktioniert und sie zweitens zu den gesetzlich geschützten Bereichen zählen. Ebenfalls unangetastet bleiben Gas-Lieferungen unter anderem an Krankenhäuser und Pflegeheime, Polizei und Feuerwehr, Schulen und öffentliche Verwaltungen. Auch einige Unternehmen gehören zum geschützten Bereich, Fernwärme-Versorger Steag etwa.

Das Chemiewerk von Evonik an der Goldschmidtstraße wäre im Zweifel betroffen

Übrig bleiben am Ende die meisten gewerblichen Kunden. Wenn die in Essen beheimatete „Open Grid Europe GmbH“ als Betreiber des Gas-Fernleitungs-Netzes sich allerdings eines Notfall-Tages bei den Stadtwerken meldet, um das Abschalt-Potenzial auszuloten, ist es für Vorbereitungen längst zu spät. Dann muss die Rückmeldung binnen Stunden erfolgen, und die Stadtwerke sind mehr ausführende Kraft, als dass ihnen nennenswerte Handlungsspielräume blieben.

Ernsthafter denn je empfehlen Stadt und Stadtwerke, Energie zu sparen: Drei Grad weniger Raumtemperatur würden den verbrauch um rund 20 Prozent senken, heißt es.
Ernsthafter denn je empfehlen Stadt und Stadtwerke, Energie zu sparen: Drei Grad weniger Raumtemperatur würden den verbrauch um rund 20 Prozent senken, heißt es. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Darum wurde bereits ein Krisenstab gegründet, um Spielräume nicht zuletzt für jene Firmen auszumachen, bei denen ein Gaslieferstopp besonders viel Schaden anrichten würde. Bei Spezialchemie-Produzent Evonik etwa, der an der Goldschmidtstraße sitzt und derzeit Reaktions-Szenarien erarbeitet. Noch gibt es zu viele Unbekannte in der Rechnung, sagt dort allerdings ein Sprecher, weil am Standort Essen ein komplexes und damit kompliziertes Verbundsystem gegenseitiger Abhängigkeiten vom Energieträger und Rohstoff Erdgas existiert.

Stadtwerke basteln an Kriterien für den Fall, dass sie „Abschalt-Potenzial“ suchen muss

Und an der Chemie als Vorlieferant hängen wiederum andere externe Unternehmen mit ihrer Produktion. Kein Wunder, dass Stadtwerke-Chef Schäfer sich nicht übermäßig glücklich darüber zeigt, dass am Ende die Stadtwerke – sicher gemeinsam mit der Stadt – darüber befinden müssten, wem das Gas in welchem Umfang abgedreht wird.

Dabei ist der Interpretations-Spielraum nicht sonderlich groß. Aber soll man im Zweifel einheitlich um eine feste Quote kürzen oder einige verschonen und andere dafür ganz vom Netz nehmen? Noch bastelt die Zentrale in Rüttenscheid an Kriterien. Noch hofft Schäfer, dass es zu alledem nicht kommt. Er mag der Politik keine Ratschläge für ein Embargo geben, fragt (sich) aber, ob der Ukraine wirklich damit gedient ist, wenn Hals über Kopf ein Ausstieg erfolgt, der massive wirtschaftliche Folgen auslöst. „Ganz schwer abzuwägen“ sei das.

Für die Karnaper Glashütte und alle anderen.