Essen. Das Schauspielensemble verabschiedet sich zum Ende der Ära Tombeil von der Essener Bühne. Was „Merlin oder Das wüste Land“ zu bieten hat.

Wie sein Held hat Thomas Büchel bis zum Gehtnichtmehr gekämpft. Doch weder die schulpflichtigen Kinder noch sein Alter waren ausschlaggebend, dass er Ensemblemitglied am Schauspiel Essen unter der neuen Leitung bleiben kann. Der 58-Jährige gehört zu den Schauspielern, die das Theater zum Ende der Intendanten-Ära Christian Tombeil verlassen müssen. Gemeinsam mit seinen Kollegen verabschiedet er sich nach zehn Jahren in der Titelrolle von Tankred Dorsts „Merlin oder Das wüste Land“. Lars-Ole Walburg inszeniert das Mammutstück zwischen Abenteuer und Abarbeiten an demokratischen Werten mit allem, was das Grillo-Theater technisch zu bieten hat - von Bodennebel bis zum Fluggeschirr.

[In unserem lokalen Newsletter berichten wir jeden Abend aus Essen. Den Essen-Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen.]

„Merlin oder Das wüste Land“ entstand nach Vorbildern aus der Artussage, umfasst gut 300 Seiten, fast 100 Szenen, rund 50 Rollen, und wurde 1981 in Düsseldorf uraufgeführt. Als Sohn des Teufels soll der Zauberer Merlin die Menschheit ins Verderben führen. Stattdessen gründet er mit Artus, der mit dem Sieg über das Schwert Excalibur die Königswürde erlangt, die Tafelrunde und strebt das Ideal einer gerechten Gesellschaft in einer Welt ohne Krieg an. Doch die ritterlichen Tugenden bröckeln: Ritter Lancelot hat eine Affäre mit Artus’ Frau Ginevra, und der uneheliche Sohn des Königs, Sir Mordred, ist im Zweifel an der Utopie der Elterngeneration als Verräter und Mörder unterwegs.

Rittergeschichte mit Zauber und politischen Anspielungen

Ehebruch vor der ganzen Ritterschar: Königin Ginerva (Janina Sachau, links vorne) und Sir Lancelot (Alexey Ekimov) haben eine Affäre in dem Monumentaldrama „Merlin oder Das wüste Land“..
Ehebruch vor der ganzen Ritterschar: Königin Ginerva (Janina Sachau, links vorne) und Sir Lancelot (Alexey Ekimov) haben eine Affäre in dem Monumentaldrama „Merlin oder Das wüste Land“.. © Foto: Birgit Hupfeld

Tankred Dorst entwickelte mit seiner Frau Ursula Ehler die im Mittelalter spielende, ganz heutige Geschichte vom Aufbau einer Demokratie und dem Scheitern an der menschlichen Wirklichkeit. Thomas Büchel kennt sie aus Weimar. Er hatte damals unter anderem den Teufel gespielt. Als das Essener Ensemble ein Abschiedsstück suchte, stand dieses gleich auf dem Plan. „Es bot sich an, weil es einen großen Pool an Rollen hat“, sagt er. „Und weil es eine super Rittergeschichte ist mit viel Theaterzauber und tollen politischen Anspielungen.“ Jetzt sind 16 der 17 festangestellten Ensemblemitglieder dabei. Stefan Diekmann fehlt aus familiären Gründen. Büchel tritt diesmal als Merlin auf und darf mit gefühlt zehn Kilo schwerem Umhang durch die Lüfte schwingen zwischen den Ideen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und deren Bruchlandung.

Auch Regisseur Lars-Ole Walburg hat mit dem Stoff schon gearbeitet. „Das ist 25 Jahre her. Ich war Dramaturg in Basel. Stefan Bachmann führte Regie. Anderenfalls wäre ich für die erkrankte Henriette Hörnigk nicht zehn Tage vor Probenbeginn eingesprungen“, so der gebürtige Rostocker, der Schauspieldirektor am Theater Basel und Intendant des Schauspiel Hannover war. An das Raumkonzept von Claudia Charlotte Burchard dockt er mit einer Theaterreise an, die mit Straßentheater in den Foyers beginnt, die Zuschauenden mit in ein Schiff auf der Bühne nimmt und schließlich, wie bei einem Guckkasten üblich, vor den Bug blicken lässt.

Die Komplexität des Stückes hat den Regisseur gereizt

Seine eigene Fassung des Textes hat er sich nicht nehmen lassen und die fällt anders aus als vor 25 Jahren. Sie „hat eine starke politische Ebene“, die mit der Symbolik des Christentums erzählt wird. „Es ist ein pralles Stück, das von den Schauspielern lebt“, erklärt der Regisseur. Die Komplexität des Stückes hat Walburg vor allem gereizt. „Es ist ein bisschen ,Game of Thrones’ mit viel Personal“, meint der 58-Jährige. Das Monumentaldrama, das über eine Fülle von Handlungssträngen verfügt, wurde nie in der Originallänge von zirka 15 Stunden gezeigt. Meist waren es acht, auch mal drei, in Essen sind es etwas mehr als vier Stunden.

Zu den zentralen Themen zählen für ihn der Aufstieg und Fall einer Idee, der fühlende Gott- und Gralssucher Prazival und der Generationenkonflikt, die in einer Montage von Mittelalter und Moderne verhandelt werden. Die jüngere Geschichte wird über Video eingespielt. Da gibt es Bilder aus der Nazizeit, vom Wirtschaftswunder, von Industrie, Umweltzerstörung und Demonstrationen. Nicht nur daraus zieht die ältere Geschichte ihre Aktualität.

Frauen sind in Männerrollen, Männer in Frauenrollen zu sehen

Dorsts Ausführungen über reizvolle Rittergespielinnen flogen raus. „Diese Altherren-Erotik darf man nicht mehr erzählen“, betont Lars-Ole Walburg. Romanzen und Ehedramen finden bei ihm statt, doch unter anderen Vorzeichen. Er besetzt Rollen unabhängig vom vorgegebenen Geschlecht, das heißt: Frauen sind in Männerrollen, Männer in Frauenrollen zu sehen. So verkörpert Ines Krug, die bereits der weise Nathan war, hier den Teufel. Und die filmisch angelegte Musik von Lars Wittershagen trägt die Phantasie der Schauspieler weiter als bis zum letzten Satz.

Doch wo soll das alles am Ende hinführen? Gibt es noch Hoffnung? Fest steht: „Alle Handelnden sterben“, sagt Lars-Ole Walburg. Merlin nicht. Er landet, zumindest im Original, gefangen in einem Weißdornbusch. „Der Tod ist eine Form der Erlösung. Aber dadurch, dass das Schwert zurückkommt, klingt die Möglichkeit einer Hoffnung an“, führt er aus. Bezogen auf unsere Welt zeigt er sich besorgt: „Ich denke dabei nicht an mich, sondern an meine beiden Töchter, wenn wir in Tatenlosigkeit verharren.

Wunschstück des Ensembles

„Merlin oder Das wüste Land“ hat am 29. April, 19 Uhr, Premiere im Grillo-Theater. Das Monumentaldrama von Tankred Dorst hält sich tapfer auf den deutschen Bühnen. Es wird auch nach über 40 Jahren immer noch als Maßstab der Demokratie genutzt, verbindet politischen Anspruch und Wirklichkeit, mittelalterliches Spektakel mit Rittern, Clowns und Zauberern und moderne Welt.

Das Wunschstück des Ensembles vereint bis zum Ende der Ära Christian Tombeil im Juni fast alle Schauspieler des Essener Ensembles und zeigt in der Regie von Lars-Ole Walburg, wie gut sie miteinander eingespielt sind. Mit dabei sind Dennis Bodenbinder, Thomas Büchel, Lene Dax, Alexey Ekimov, Floriane Kleinpaß, Ines Krug, Stefan Migge, Philipp Noack, Sabine Osthoff, Jan Pröhl, Janina Sachau, Sven Seeburg, Trixi Strobel, Rezo Tschchikwischwili, Silvia Weiskopf und Jens Winterstein.

Auf 18.30 Uhr wurde der Beginn einiger Vorstellungen wegen der Aufführungsdauer von mehr als vier Stunden vorgezogen.

Karten und Termine unter 0201/ 8122 200 und online auf www.theater-essen.de

Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig & Werden + Borbeck & West | Alle Artikel aus Essen]