Essen. Am 3. April 1948 startete die WAZ-Lokalausgabe Essen. Kurz nach dem Krieg konnten die Zeiten in der zerstörten Stadt bescheidener nicht sein.
Ein Tisch, ein Stuhl, eine klapprige Schreibmaschine und ein zugiges Zimmerchen in einem halb zerbombten Haus: Das war die Ausstattung, mit der der Ein-Mann-Lokalredakteur Gustav Hensel den ersten Essener Lokalteil der WAZ produzierte, der am 3. April 1948 zunächst aus einer halben Seite bestand. Das war nicht viel, aber wohl unumgänglich bei einer Zeitung, die anfangs insgesamt nur vier Seiten umfasste und schließlich auch das Weltgeschehen abbilden wollte.
Generell waren die Zeiten bescheiden, als vor 75 Jahren die erste Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung erschien. Rund drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Wiederaufbau zwar begonnen, doch dominierten noch überall in der Region Ruinen, und die Krupp-Stadt Essen hatte es besonders schwer getroffen.
Zeitungsviertel in Essen war vom Bombenkrieg schwer getroffen
Auch das Essener Zeitungsviertel, das Ende der 1920er Jahre an der Sachsenstraße entstand, war stark zerstört worden, doch hatte eine Zeitungs-Rotation überlebt. Die Maschine war allerdings mehr als ausgelastet, um den Druck zu bewerkstelligen für die Neue Ruhr/Rhein Zeitung (NRZ), die bereits am 13. Juli 1946 an den Start gehen konnte, und für die überregionale Zeitung „Die Welt“, die ebenfalls seit 1946 zunächst in Essen ihren Sitz hatte. So wich die WAZ mit Verlag und Hauptredaktion zunächst nach Bochum aus, denn dort gab es 1948 die einzige Druckerei im Ruhrgebiet, die Kapazitäten frei hatte.
Essen war auch publizistisch die inoffizielle Hauptstadt des Ruhrgebiets
Den WAZ-Gründern Erich Brost und Jakob Funke war aber wohl schon früh klar, dass dies so nicht bleiben würde. In Essen, der inoffiziellen Hauptstadt des Ruhrgebiets, spielte schon im 19. Jahrhundert und bis zur „Stunde Null“ publizistisch die Musik. Theodor Reismann-Grone gab hier die Rheinisch-Westfälische Zeitung (RWZ) und den Essener Anzeiger heraus, die noch heute bekannte Verlegerfamilie Girardet die Essener Allgemeine Zeitung (EAZ), es gab mit der Essener Volkszeitung ein katholisches Blatt der Zentrumspartei, und auch NS-Blätter wie die „National-Zeitung“ hatten hier ihren Sitz.
Nach 1945 steuerte die britische Besatzungsmacht dann von Essen aus den Neuanfang mehrerer großer Blätter für die gesamte Besatzungszone, Zeitungen, die den demokratischen Neuanfang mitbegründen und stützen sollten. An der Sachsenstraße war dafür die wenn auch teilzerstörte Infrastruktur vorhanden, ferner gab es – mindestens genauso wichtig – das Wissen der Schriftsetzer, Drucker, Vertriebsleute und Journalisten, soweit sie den Krieg überlebt hatten.
Der gebürtige Essener Jakob Funke hatte an der Sachsenstraße in den 1920er Jahren seine journalistische Karriere beim Essener Anzeiger gestartet und war 1946 dann erster Essener Lokalchef der neu gegründeten NRZ geworden. Er war bestens vernetzt und ein Organisationstalent, seiner Heimatstadt stark verbunden und lebte mit seiner Familie auf der Margarethenhöhe. Auch der Danziger Erich Brost war hier heimisch geworden und hatte als erster Chefredakteur der SPD-nahen NRZ erste Ruhrgebiets-Erfahrungen gesammelt, bevor er die WAZ-Lizenz erhielt.
Kurzum: Essen war die Zeitungsstadt des Ruhrgebiets, hier gehörte mittelfristig auch die WAZ hin. Mit dem rasch wachsenden wirtschaftlichen Erfolg und der Einweihung des neuen Verlagshauses mit Druckerei an der Ecke Sachsenstraße/Friedrichstraße konnte dieser Schritt dann bereits 1953 vollzogen werden.
Sorge um die wirtschaftliche Zukunft beherrschte die lokalen Themen vor 75 Jahren
Die Essener Lokalredaktion hatte selbstverständlich von Beginn an ihren Sitz in der Stadt, erst in der Limbecker Straße, dann am Limbecker Platz. Die Sorge um die wirtschaftliche Zukunft wegen der Demontagen von Industrieanlagen, der Wohnungsmangel und die 1948 immer noch prekäre Ernährungslage waren die Hauptthemen der Ausgaben vor 75 Jahren, die wegen der Papierknappheit allerdings nur über einen Bruchteil des Essener Alltagslebens berichten konnten.
Hin und wieder war auch das erwachende Kulturleben Thema in der Essener WAZ, auch allzu Menschliches und Unterhaltsames wurde nicht verschmäht getreu der Erkenntnis, dass Leser selbst in extrem angespannten Zeiten nicht nur Negatives lesen möchten. Die wegen der Papierzuteilung teils noch limitierten Auflagen wurden den Verlagen aus den Händen gerissen und nicht selten von mehreren Haushalten gelesen, die die Zeitung einander weitergaben. Die gedruckte Zeitung war und blieb noch lange konkurrenzlos das einzige Medium, das das lokale Geschehen abbildete.
Im Jahr 1949 kam ein Mann an die Spitze der Essener Lokalredaktion, der zum Gesicht der örtlichen WAZ wurde: Karl Sabel, „ein Journalist von geradezu beängstigender Arbeitskraft“, wie es WAZ-Chronist Ernst Ney in seinem Buch „Alles aus dem Nichts“ formulierte. „Ein Augenmensch, ein Journalist, dem kein Detail entging“, wie Ney urteilte. Verliebt in seine Stadt Essen, hat der berufliche Weggefährte von Jakob Funke wie kein anderer ihren Wiederaufbau beschrieben. Und da gab es sehr viel zu tun.
Lokalchef gab dem Umbau der Stadt journalistischen Flankenschutz
Nicht alles wird man aus heutiger Sicht noch unterschreiben wollen. Der geradezu amerikanische Total-Umbau großer Teile der Innenstadt und der umliegenden Viertel erhielt ebenso Sabels journalistischen Flankenschutz wie der symbolträchtige Abriss des alten Rathauses. Er befand sich damit gerade in Essen im Einklang mit einem Zeitgeist und einer Kommunalpolitik, die alles Neues feierte. Sabel setzte diesem Denken und Handeln aber eben auch nichts entgegen.
Obwohl als letzte der noch von den Briten lizenzierten Zeitungen an den Start gegangen, schaffte es die WAZ binnen weniger Jahre, die auflagenstärkste in Essen zu werden. Das gelang auch, indem man noch in den 1950er Jahren einige der lokalen Konkurrenten übernahm, die publizistisch die Bedürfnisse des zunehmend umkämpften Lesermarkts verfehlten und denen schließlich finanziell die Luft ausging. Eine Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf.
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