Essen. Die Polizei konnte in Essen einen 29-jährigen Sprayer auf frischer Tat erwischen. Was die Ermittler über die Szene wissen.
Bei der Festnahme eines Graffiti-Sprayers in Essen-Kupferdreh half der Polizei jüngst Kommissar Zufall. Der 29-Jährige war einer Polizeistreife auf der Byfanger Straße aufgefallen, weil er eine Sturmhaube unter der Kapuze trug. Schnell sollte sich der Verdacht bestätigen, dass er sich die Haube nicht übers Gesicht gezogen hatte, um sich gegen die eisige Kälte zu schützen. Bei sich trug er eine Spraydose und diverse Graffitiutensilien. An den Händen hatte er Farbe. Ganz in der Nähe entdeckten die Beamten Schmierereien im selben Farbton.
Die Polizeibeamten hatten nicht irgendwen aufgegriffen. Bei der Durchsuchung von der Staatsanwaltschaft angeordneten Durchsuchung seiner Wohnung fanden die Ermittler weitere belastende Hinweise: darunter Vorlagen für Graffiti, die dem Beschuldigten nach Einschätzung der Polizei zweifelsfrei zugeordnet werden konnten.
Auf das Konto des Sprayers gehen laut Polizei Graffiti in drei Essener Stadtteilen
Die Behörde legt dem Tatverdächtigen mittlerweile 82 Straftaten zur Last. Deren Zahl hat sich damit noch einmal deutlich erhöht. Zunächst war von 67 Fällen illegaler Farbschmierereien die Rede, die dem 29-Jährigen angelastet werden. Graffiti soll er nicht nur in Kupferdreh, sondern auch in Heisingen und Bergerhausen hinterlassen haben. Das zuständige Kriminalkommissariat stuft die Anzahl der Fälle als beträchtlich ein.
Der Polizei half dabei auch die detektivische Arbeit der „Aktionsgemeinschaft gegen Vandalismus“. Diese war vor einigen Jahren aus der Bürgerschaft Kupferdreh hervorgegangen. Die Aktionsgemeinschaft dokumentiert Graffiti an Häusern und Mauerwänden und stellt den Ermittlern Fotos davon als mögliche Beweismittel zur Verfügung.
Kupferdreh gilt als ein Hotspot der Sprayer-Szene. Wer mit offenen Augen durch den Stadtteil im Essener Südosten spaziert, muss sich keine große Mühe geben, um auf illegale Farbschmierereien und sogenannte Tags zu stoßen. Sprayer hinterlassen diese an Wänden wie eine Unterschrift. In Kupferdreh weisen diverse Tags daraufhin, dass es sich um mehrere Täter handelt. „Darunter sind durchgeknallte Typen“, ist sich Rainer Busch von der Aktionsgemeinschaft sicher. Busch hofft, dass es der Polizei gelingen wird, weitere Sprayer zu identifizieren.
Pro Jahr landen etwa 500 Fälle auf dem Schreibtisch des Essener Graffiti-Ermittlers
Ein erfahrener Ermittler, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Sachbeschädigungen durch Graffiti befasst, macht da nicht allzu viel Hoffnung. „Ich habe in all den Jahren nicht einen Fall erlebt, in denen ein Graffiti-Sprayer Hinweise auf weitere Täter gegeben hat“, sagt der Kriminalhauptkommissar, der aus nahe liegenden Gründen anonym bleiben will.
Auf seinem Schreibtisch landen etwa 500 Fälle pro Jahr. In Hochzeiten waren es dreimal so viele, wobei längst nicht jede Schmiererei zur Anzeige gebracht wird. Graffiti finden sich in allen Essener Stadtteilen. Die Szene beschreibt der Ermittler als verschlossen. Bei Vernehmungen geben Verdächtige nur preis, was sie preisgeben müssen, oder was die Polizei schon weiß. Es gebe eine Art Ehrenkodex, niemanden zu verpfeifen.
In zwei Jahrzehnten konnte die Essener Polizei 800 illegale Sprayer ermitteln
Untereinander kennt man sich, legt sogar wert darauf, innerhalb der Szene erkannt zu werden. Deshalb die Tags. Manchmal verbirgt sich dahinter eine schlichte Botschaft, berichtet der Graffiti-Ermittler. Die Buchstaben-Kombination „EI“, die einer der Sprayer verwendete, stand für „Essen Identity“. Ein anderer markierte seine Graffiti mit „usw“, eine Abkürzung für „unsere saubere Welt“, was wohl als Anklage verstanden werden sollte. Dass die Wirklichkeit bekanntlich anders aussieht, dazu leistete der Täter ironischerweise seinen eigenen Beitrag.
In zwei Jahrzehnten Polizeiarbeit konnte der Graffiti-Kommissar mehr als 800 Täter ermitteln, denen rund 3500 verschiedene Graffiti-Pseudonyme zugeordnet werden. Der jährliche Schaden, den Sprayer anrichten, geht in die Millionen. Betroffen sind private Hauseigentümer, die Deutsche Bahn, die Ruhrbahn, Schulen …
Nicht nur wegen des optischen Eindrucks erfüllen Graffiti den Tatbestand der Sachbeschädigung. Die verwendete Farbe schädigt Mauerwerk und Beton. An Lärmschutzwänden verringert Graffiti die schallschluckende Wirkung der Bauwerke. In Kupferdreh, wo an der A 44 neue Lärmschutzwände errichtet werden, dauerte es nur wenige Tage – nachdem die ersten Wandelemente standen – bis diese beschmiert waren. Rainer Busch von der Aktionsgemeinschaft gegen Vandalismus geht davon, dass ganze Banden am Werk waren. Sprayer seien bundesweit aktiv, heißt es vonseiten der Ermittler.
Den beschuldigten Sprayern werden mehrere Delikte zur Last gelegt
Da die Täter meist im Schutze der Nacht zuschlagen, muss zuweilen Kommissar Zufall helfen, will die Polizei jemanden auf frischer Tat erwischen wie zuletzt an der Byfanger Straße geschehen. Die Aufklärungsquote schwankt nach Angaben der Polizei zwischen 10 und 30 Prozent. Den Beschuldigten werden nicht selten mehrere Delikte zur Last gelegt: Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch oder gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Der Graffiti-Ermittler im Polizeipräsidium erinnert sich an einen besonderen Fall: Als die Polizei zwei Verdächtigen in Frohnhausen auf der Spur war, flüchteten diese zu Fuß über die A 40.
Werden Sprayer erwischt, drohen empfindliche Geldstrafen oder Freiheitsentzug auf Bewährung. Für den Schaden, den sie verursacht haben, müssen sie aufkommen. Im Fall des 29-Jährigen aus Kupferdreh geht die Polizei von mindestens 50.000 Euro aus. Dennoch werden auch verurteilte Sprayer häufig zu Wiederholungstätern, berichtet der Essener Kriminalhauptkommissar. Das Verlangen nach dem besonderen Kick, den sie empfinden, wenn zur Spraydose greifen, ist größer als die Angst vor einer Strafe. Zumal die Erfahrung des Ermittlers auch zeigt: „Sprayer haben Geld zum Sprayen, aber nicht genug Geld, um den Schaden zu begleichen.“
Dabei seien die Täter längst nicht nur Jugendliche oder junge Erwachsene. „Der Älteste war 73“, berichtet „Kommissar Graffiti“. Der Mann hatte für seine Liebste Herzchen und Liebesschwüre an Wänden hinterlassen. Nachsicht durfte der gealterte Romeo dafür nicht erwarten.
Der älteste Täter war 73 Jahre alt, an einer Wand hinterließ er Herzchen für seine Liebste
Als Eigentümer einer Immobilie sei es praktisch unmöglich, seinen Besitz gegen Graffiti zu schützen. Auch Überwachungskameras seien „kein Allheilmittel“, sagt der Ermittler. „Ich habe Videoaufnahmen von der Ruhrbahn gesehen, darauf kamen die Sprayer schon maskiert an den Tatort.“ Offenbar wohl wissend, dass sie dabei aufgenommen wurden.
Als Eigentümer kann man sich gegen Graffiti-Schäden versichern. Aber das kostet. Öffentliche Institutionen wie die Deutsche Bahn oder die Autobahn GmbH des Bundes lassen Betonflächen von professionellen Sprayern künstlerisch gestalten, so auch am Bahnhof Kupferdreh. Denn erfahrungsgemäß respektieren illegale Sprayer solche Kunst am Bau.