Essen. 559 Kinder wurden im Jahr 2021 in Essen in Obhut genommen. Für die Kleinsten sucht das Jugendamt Pflegeeltern, gern mit Migrationsgeschichte.

Sie sind Kleinkinder oder gar noch Babys – und sie müssen ihre Familie verlassen, weil die Eltern abwesend, überfordert oder gewalttätig sind: 79-mal hat die Stadt Essen im Jahr 2021 ein Kind im Alter von null bis drei Jahren in Obhut genommen. Kinder, die noch viel Nestwärme brauchen und darum möglichst nicht in Heimen untergebracht werden sollen. Das Jugendamt sucht daher Pflegeeltern und wendet sich nun ausdrücklich an Familien „mit Migrationsgeschichte“.

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Sie – und alle am Thema Interessierten – sind am Freitag, 20. Januar, um 18 Uhr zur Auftaktveranstaltung des Projekts „Kinder brauchen ein Zuhause – kultursensible Pflegekinderhilfe“ in die Weststadthalle eingeladen. Dort sprechen Menschen mit Expertise und solche mit Erfahrung wie Pflegemutter Selma Kesimal, die so für ihre Aufgabe wirbt: „Die beste Belohnung ist das Lächeln eines Kindes.“

559 Inobhutnahmen in einem Jahr in Essen

Eine Belohnung, die nicht immer leicht zu erringen ist, bringen die Kinder doch meist eine traurige Geschichte mit und sind oft hin- und hergerissen zwischen ihrer Herkunfts- und der Pflegefamilie. Selten sind solche Schicksale nicht: Insgesamt 559 Inobhutnahmen verzeichnet der aktuelle Kinderschutzbericht der Stadt Essen für das Jahr 2021.

In Essen leben 650 Kinder in Pflegefamilien

Mindestens 650 Kinder in Essen leben in Pflegefamilien. 563 von ihnen sind über den Pflegekinderdienst des Jugendamtes in 455 Pflegestellen unterschiedlicher Art vermittelt worden. Dazu kommen die Kinder, die von anderen Trägern bei Pflegeeltern untergebracht wurden.

Wie viele Pflegestellen oder Kinder mit Migrationshintergrund darunter sind, wird nicht erhoben. Durch Einwanderung und Flucht nehme die Zahl der Pflegekinder mit Migrationshintergrund aber deutlich zu, teilt das Jugendamt mit. Ein Forschungsprojekt zum Thema Pflegekinder hat ermittelt, dass jedes vierte der Kinder einen Migrationshintergrund hat.

Beim Jugendamt Essen sind Pflegeeltern unterschiedlicher Kulturen und Glaubensrichtungen willkommen, da sie die Vielfalt der Pflegekinder spiegeln.

Die ev. Jugend- und Familienhilfe lädt Interessierte zur offenen Beratung ein am Mittwoch, 22. Februar, von 16 bis 18 Uhr im KD11/13, Zentrum für Kooperation und Inklusion, Karl-Denkhaus-Straße 11-13.

Für ältere Kinder oder Jugendliche sind Wohngruppen oder Heime häufig ein gutes Angebot. „Gerade für junge Kinder gibt es zu wenig passgenaue Hilfen und familienanaloge Unterbringungsmöglichkeiten, wenn es ihnen nicht mehr möglich ist, in ihrer ursprünglichen Familie zu leben“, bedauert der Leiter des Jugendamtes, Carsten Bluhm.

Stadt will Pflegefamilien mit Migrationshintergrund gewinnen

Kinder hätten in allen Kulturen einen hohen Stellenwert, oft erziehe die gesamte Großfamilie die Jungen und Mädchen, sagt das Jugendamt. Auch bildeten Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte die Essener Stadtgesellschaft. Dennoch habe man Familien mit Migrationshintergrund bisher als Pflegeeltern „nicht in dem von uns gewünschten Maß erreicht“, sagt Jugendamtssprecherin Stefanie Kutschker.

„Uns fehlten oftmals die Zugänge, vor allem Vermittler und Vermittlerinnen“, erklärt sie. So sei das Projekt „kultursensible Pflegekinderhilfe“ entstanden, bei dem man sich Kooperationspartner ins Boot geholt hat: den Essener Verbund der Immigrantenvereine, die evangelische Jugend- und Familienhilfe Essen und das Zukunft Bildungswerk. Gemeinsam mit ihnen will man nun Menschen mit internationaler Familiengeschichte als Pflegeeltern gewinnen.

Der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Wolf, der zur Pflegekinderhilfe forscht, hält dazu am Freitag einen Vortrag mit dem programmatischen Titel: „Warum wir Pflegefamilien mit Migrationsgeschichte wertschätzen sollten.“ Außerdem wird ein Kurzfilm gezeigt, den die Kooperationspartner mit der Agentur Cengiz entwickelt haben; finanziert mit Fördermitteln aus dem Integrationsbudget der Stadt. Er solle zeigen, „wie wertvoll das Engagement für Pflegekinder ist“. Darin kommen auch die Pflegemütter Elveda Akarsu und Selma Kesimal zu Wort, die für die Aufgabe werben. Akarsu etwa sagt, sie appelliere einfach an andere Pflegemütter: „Du schaffst das auch. Hab’ Mut, gib’ einem Kind noch eine Chance, werde eine Familie. Kinder brauchen uns.“

Das Beste fürs Kind rausholen

Eine Mitarbeiterin des Pflegekinderdienstes, die Pflegeeltern mit türkischem Hintergrund betreut, erzählt: „Sie nehmen vorbehaltlos Kinder aller Nationalitäten auf und haben aktuell kleine Zwillinge afrikanischer Herkunft.“ Anfangs habe es Diskussionen gegeben, etwa weil die leiblichen Eltern auf Haarpflegeprodukten aus dem „African Shop“ bestanden. Mittlerweile hätten sich die Familien angenähert, und die zwei kleinen Kinder sprechen schon einige Wörter Deutsch, Englisch und Türkisch – und nahmen schon an Zuckerfest und türkischer Hochzeit teil. „Alle Seiten profitieren von den unterschiedlichen Kulturen.“

Die beiden Pflegemütter und Prof. Wolf werden am Freitag ebenso auf dem Podium sitzen wie der Geschäftsführer des Zukunft Bildungswerks, Turgay Tahtabaş; Birgit Glitzner als Koordinatorin der evangelischen Jugend- und Familienhilfe, der Geschäftsführer Essener Verbundes der Immigrantenvereine, Oktay Sürücü; die Leiterin des Pflegekinderdienstes Ute Arens und ihr Kollege Wolfgang Wendler. Pflegemutter Selma Kisimal macht potenziellen Pflegeeltern Mut: „Egal was auf einen zu kommt nicht aufgeben einfach nur weitermachen. Und das Beste fürs Kind herausholen.“

„Kinder brauchen ein Zuhause“ am Freitag, 20. Januar, um 18 Uhr in der Essener Weststadthalle, Thea-Leymann-Straße 23. Es gibt eine Kinderbetreuung.