Essen-Südviertel. Gehwegparken ist verboten, wird aber häufig toleriert. Was aber, wenn ein Anwohner regelmäßig seine Nachbarn anzeigt? Ein Fall aus Rüttenscheid.
Der Parkdruck in Essen steigt und Rüttenscheid sowie das angrenzende Südviertel sind Stadtteile, in denen man mitunter sehr schwierig einen Parkplatz findet. So geht es auch Sybille Müller (42), die in der Schornstraße lebt und aufgrund einer neurologischen Erkrankung stark gehbehindert ist. Besonders abends wird die Suche nach einer freien Parklücke für sie häufig zur Geduldsprobe. Die Essenerin ärgert sich sehr, dass sie aufgrund privater Anzeigen in den vergangenen Monaten insgesamt drei Knöllchen und sogar einen Punkt wegen Gehwegparkens bekommen hat.
Aus Müllers Sicht handelte es sich in mindestens zwei der Fälle um „absolute Bagatellverstöße“. Denn sie achtet nach eigener Aussage sorgfältig darauf, dass auf dem Gehweg noch genug Platz für andere Verkehrsteilnehmer ist, beispielsweise für Fußgänger mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrer.
Gehwegparken ist in Essen grundsätzlich verboten
Mit zwei oder allen vier Reifen auf dem Gehweg zu parken, ist grundsätzlich verboten – außer, es sind Schilder aufgestellt, die Ausnahmen zulassen. Allerdings ist es unter bestimmten Umständen üblich, dass das Ordnungsamt im Rahmen des sogenannten Opportunitätsprinzipes auch in solchen Fällen keinen Bußgeldbescheid ausstellt. Das heißt: Die Behörde kann, aber muss nicht eingreifen. Es gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Laut Essens Ordnungsdezernent Christian Kromberg werden Verstöße gegen das Gehwegparkverbot in der Regel durch das Ordnungsamt geduldet, wenn noch 1,20 Meter Restbreite auf dem Gehweg für Fußgängerinnen und Fußgänger bleiben. Dieses Vorgehen sei vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bisher immer akzeptiert worden.. Es gibt auch Fälle, in denen die Stadt Gehwegparken nach Bürgerbeschwerden über zu wenig Parkplätze und dauerhafte Knöllchen erlaubt hat: zum Beispiel in der Kalkstraße in Schönebeck. Dies wiederum kritisierte Wolfgang Packmohr, Vorsitzender des Vereins Fuss e.V.: „Gehwege zweckzuentfremden und zuzuparken ist keine Lösung für das allgemeine Parkproblem.“
Essenerin ärgert sich, dass ihr Fall verfolgt wird, andere aber nicht
Gerade weil Gehwegparken in vielen Straßen in Essen regelmäßig durch das Ordnungsamt toleriert wird, empfindet Sybille Müller das Vorgehen in ihrem Fall als unverhältnismäßig. In der Emilienstraße, einer Parallelstraße, parkten beispielsweise alle Fahrzeuge auf der rechten Straßenseite mit zwei Reifen auf dem Gehweg, so die Essenerin. Die Knöllchen bekam sie in der Schornstraße und an der Witteringstraße/Ecke Ernastraße. Dass sie in diesen Fällen für Verstöße zur Kasse gebeten wurde, die von den Mitarbeitern des Ordnungsamtes aus Eigeninitiative regelmäßig nicht verfolgt würden, sei für sie unverständlich.
Bußgelder und Punkt fürs Gehwegparken
Wer auf dem Bürgersteig parkt, ohne jemanden zu behindern, zahlt laut Straßenverkehrsordnung ein Bußgeld in Höhe von 55 Euro. Parkt man dort länger als eine Stunde, muss man jedoch schon mit 70 Euro und einem Punkt rechnen.
Auch wer andere – zum Beispiel Fußgänger, Rollstuhlfahrer oder Eltern mit Kinderwagen – behindert, zahlt 70 Euro und bekommt einen Punkt. Wird durch das parkende Auto jemand gefährdet, werden 80 Euro und ein Punkt fällig.
Auf Anfrage erklärt die Stadt, dass das Ordnungsamt jede Situation im Zuge der Ermessensausübung einzelfallbezogen prüfe. Jeder Fall werde einer sachlichen Bewertung unterzogen. An einer sachgerechten Einzelfallbewertung zweifelt Sybille Müller jedoch. Der Anzeigenerstatter, der in ihrem Viertel unterwegs ist, zeigt seine Mitbürger mit Beweisfoto beim Ordnungsamt an. „Anhand eines Fotos lässt sich aber schlecht nachmessen, ob 1,20 Meter bleiben“, sagt sie. Von der Erhebung eines Einspruches gegen den Bußgeldbescheid hat sie trotzdem abgesehen. Denn nach eigenen Recherchen schätzte sie ihre Rechtsposition als schwach ein.
Essens Ordnungsdezernent Kromberg: Parksituation ist „hochkomplexe Materie“
Die Parksituation im Stadtgebiet bezeichnet Ordnungsdezernent Kromberg als „hochkomplexe Materie.“ Denn fest stehe definitiv: „In Essen gibt es zu viele Autos und zu wenig Parkmöglichkeiten.“ Es stelle sich also die Frage, ob das politische Problem des fehlenden Parkraums durch das Ordnungsamt gelöst werden könne und sollte. Krombergs Meinung: Nein. Wenn man puristisch vorginge, dann müsste man auf der Margarethenhöhe quasi alle Autos abschleppen, so der Ordnungsdezernent. Das sei für ihn aber keine Option. „In vielen Stadtteilen mit hohem Parkdruck herrscht eine Art Burgfrieden“, erklärt Kromberg.
Mit dem Frieden ist es allerdings vorbei, wenn ein Anwohner auf dem Gehweg parkende Autos nicht akzeptieren will und die Verstöße privat anzeigt. Die Zahl der Privatanzeigen ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Während im Jahr 2016 erst rund 600 solcher Bürgermeldungen die Verkehrsbehörde erreichten, waren es 2018 schon 3330, im Jahr 2019 ging es dann hoch auf 5423 und im Jahr 2020 schließlich auf 9446. 2021 waren es laut Stadt wieder circa 9500.
2022 gingen bei der Stadt bis einschließlich September rund 7800 Anzeigen von Bürgern gegen mutmaßliche Falschparker ein. Ein Drittel davon erreichte die Verwaltung über ein städtisches Online-Serviceportal. In 5200 Fällen mündeten Anzeigen in Ordnungswidrigkeitsverfahren.
Essener Ordnungsamt muss Anzeigen mit Fotobeweis nachgehen
„Wenn eine Anzeige eingeht, dann sind wir verpflichtet, ihr nachzugehen“, sagt Kromberg. Auch wenn er das Vorgehen, das viele mit Denunziantentum in Verbindung bringen, durchaus kritisch sieht. „Ich befürworte es nicht und rufe nicht dazu auf, sich ein Hobby daraus zu machen, seine Nachbarn anzuzeigen“, so der Ordnungsdezernent. Ignorieren könne er die Anzeigen aber trotzdem nicht. Auch bei Privatanzeigen gelte der Ermessensspielraum. Wenn aber Fotobeweise die Vermutung nahelegten, dass ein Auto weniger als 1,20 Meter Platz lasse, dann müsse man ein Bußgeld verhängen.
Fest steht aber auch unabhängig davon: Ein Recht oder eine Garantie, dass der Verstoß nicht geahndet wird, wenn ausreichend Platz für Fußgänger bleibt, gibt es nicht. Sybille Müller ist inzwischen vorsichtiger bei der Parkplatzwahl geworden – auch wenn weite Wege vom Auto zum Haus für sie beschwerlich sind.