Essen-Katernberg. In Essen proben Ärzte neue Operationsmethoden – an Leichen. Wir klären, wer sich dafür bereit stellt und, was das mit der Queen zu tun hat.

Fünf Gestalten sitzen leicht aufrecht in einem großen Operations-Saal. Die Menschen sind schon lange tot. Ihre Körper sind mit einem blauen Tuch zugedeckt und stehen für medizinische Fortbildungszwecke der Essener Firma Movido bereit. Der erste Körperspender hier war ein junger Familienvater, der im Jahr 2019 gestorben ist und zwei Jahre zuvor Kontakt zu Movido-Geschäftsführer Ralf Schoppe aufgenommen hatte.

Körperspender wollen Medizin etwas zurückgeben

„Der Familienvater war an Krebs erkrankt und hat sich mit seinem Tod auseinandergesetzt“, erinnert sich Schoppe, der damals mit ihm telefoniert hatte. Der Mann wollte der Medizin etwas zurückgeben, wollte etwas dazu beitragen, dass andere Menschen vielleicht geheilt werden können. Das sei einer der Hauptbeweggründe für Menschen, die ihren Körper nach dem Tod zur Verfügung stellen, weiß Schoppe. Einige hätten im Verlauf ihrer Krankheitsgeschichte gemerkt, wie wichtig Forschung, Fort- und Weiterbildung in der Medizin sei.

Genau das bietet die private medizinische Weiterbildungsstätte im Katernberger Triple Z seit dem Jahr 2016. Kliniken, die Forschungsprojekte betreiben, medizinische Verbände und Ärzte, die eine neue Operations-Technik erlernen möchten, können sich dort melden und an echten Körpern üben. Zum Beispiel Schulteroperationen, wie bei jenen fünf Körperspendern, die dafür von Saal-Leiter Axel Viehring leicht aufrecht sitzend in den OP-Saal geschoben wurden. „Gestern wurden die Schultern operiert, jetzt lege ich sie hin, am Mittwoch ist die Hüfte dran“, erklärt Viehring, der von Anfang an dabei ist und den Ärzteteams assistiert. Für ihn ist die Arbeit mit den Verstorbenen Alltag, er denke kaum noch darüber nach, welches Leben die Menschen mal geführt haben oder woran sie gestorben sind. „Nur wenn die Zahnärzte kommen, dann laufe ich“, sagt Viehring lachend. Das Geräusch des Bohrers könne er bei sich selbst schon kaum ertragen.

Krebserkrankung und Organspendeausweis sind für Körperspender kein Hindernis

Eine Krebserkrankung wie bei dem Familienvater stelle kein Hindernis dar, wenn man Körperspender werden möchte, erklärt Geschäftsführer Schoppe. Lediglich Menschen mit meldepflichtigen Infektionskrankheiten wie Hepatitis, Tuberkulose und HIV dürften nicht aufgenommen werden. Das Virus könne auch nach dem Tod noch aktiv sein. Auch extremes Übergewicht könne gegen eine Körperspende sprechen: „Wir müssen den Leichnam irgendwie transportieren können.“ Obduzierte Leichen sind ebenfalls oft unbrauchbar. Sie könnten schlecht konserviert werden.

Das ist nämlich einer der ersten Schritte. „2019 hat mich der Bestatter informiert, dass der Familienvater gestorben ist“, erinnert sich Schoppe, der den Mann dann persönlich aus dem Krankenhaus in seinem Heimatort in Süddeutschland mit dem Leichenwagen abgeholt hat. Die Familie durfte noch Abschied nehmen – dafür gebe es immer noch Gelegenheit. Anders als bei einer Organspende dränge die Zeit im Fall einer Körperspende nicht so sehr.

Saalleiter Axel Viehring (l.) und Movido-Geschäftsführer Ralf Schoppe stellen für die Seminarteilnehmer auch Röntgengeräte bereit.
Saalleiter Axel Viehring (l.) und Movido-Geschäftsführer Ralf Schoppe stellen für die Seminarteilnehmer auch Röntgengeräte bereit. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ein Organspendeausweis kann nach Angaben des studierten Gesundheitsökonom übrigens behalten werden, auch wenn man sich für eine Körperspende entscheide. Die Organspende habe immer Vorrang und es spreche nichts dagegen, seinen Körper beispielsweise ohne Herz oder Nieren zu spenden. Schließlich könnten Ärzte dann noch immer Schulter-, Knie- oder andere Operationen üben.

60 Körperspender in Essener Unternehmen

Zunächst müsse der Körper aber konserviert werden. Dafür beauftrage er Thanatopraktiker und Präparatoren. Die haben dann bei dem Familienvater, genau wie bei den anderen rund 60 Körperspendern, die derzeit bei Movido zur Verfügung stehen, spezielle Chemikalien in die Blutbahnen gegeben und das Blut ausgetauscht. Dadurch werde das Gewebe jahrelang haltbar und eine Kühlung überflüssig – vermutlich sei bei der Queen übrigens ähnlich vorgegangen worden. Auch ihr Körper musste haltbar gemacht werden. Sonst hätte zwischen dem Todeszeitpunkt am 8. September und der Bestattung elf Tage später bereits die Zersetzung begonnen.

Gedenkfeier für verstorbene Körperspender

Geld gibt es für die Spendenbereitschaft nicht. Hintergrund: Körperspender sollten sich aus Überzeugung und nicht aus Geldnot bereiterklären. Movido kommt jedoch für die anonyme Urnenbestattung oder Ascheverstreuung auf.

Theoretisch kann sich jeder ab 18 Jahren als Körperspender anmelden, eine Grenze nach oben gibt es nicht. Sollte keine Krankheit vorliegen, rät Movido jedoch unter 50-Jährigen ab, da unter Umständen bis zum Todeszeitpunkt noch tiefgreifende Lebensveränderungen geschehen.

Weitere Informationen über das Körperspendeprogramm gibt es im Internet auf der Seite www.movido.info. Dort kann man sich auch anmelden, falls man das Unternehmen näher kennenlernen möchte. Am Freitag, 4. November, soll es eine Gedenkfeier für die verstorbenen Körperspender geben. Außerdem sind potenzielle Körperspender willkommen, sich zu informieren.

Nach eigenen Angaben ist eine Gewinnmaximierung nicht das Ziel der Movido GmbH. Überschüsse sollen reinvestiert oder in die Ärzteausbildung und Nachwuchsförderung fließen.

Movido steht für den lateinischen Ausspruch: Mortui vivos docent – Die Toten lehren die Lebenden.

Die Gelenke müssten für die Wissenschaft in jedem Fall beweglich bleiben, Organe, Fett und Muskeln ihre Eigenschaften bezüglich Elastizität und Haptik behalten, damit die Operation später möglichst realitätsnah durchgeführt werden könne. Das Konservierungs-Prozedere dauere rund drei Stunden.

Der Körperspender bekomme dann zwar keinen Anhänger mit einer Nummer an den dicken Zeh, aber eine ID-Nummer an verschiedenen Körperstellen und werde dann ins Computersystem eingepflegt. „Diejenigen, mit denen ich vorher gesprochen habe, bleiben aber echte Menschen für mich und keine Nummer“, erklärt Ralf Schoppe, der erlebt, dass sowohl die Körperspender zu Lebzeiten, als auch die Ärzte und Wissenschaftler extrem dankbar für die Arbeit des Unternehmens sind.

60 Fort- und Weiterbildungen für medizinisches Personal in Essener Unternehmen

Man könne seinen Körper auch einer Universität spenden, dort komme er aber hauptsächlich Studenten zugute. Im Zuge der Spezialisierung im medizinischen Bereich sei es jedoch nötig, dass auch ausgebildete Ärzte fort- und weitergebildet werden, neue operative Techniken könnten so in die Breite gebracht werden.

Rund 60 Fort- und Weiterbildungen mit jeweils 8 bis 40 Teilnehmern und Teilnehmerinnen bietet Movido jährlich an. Der Bedarf sei bundesweit nicht gedeckt, sagt Schoppe, der jährlich rund 20 Körperspenden erhält, das seien aber nicht genug. Bei jeder Anfrage hilft ein Blick ins Computersystem oder oft auch das Röntgengerät. Sollen beispielsweise Operationen an verkrümmten Wirbelsäulen trainiert werden, müsste man die Körperspender zunächst röntgen, um zu schauen, ob entsprechende Kandidaten dabei sind.

Ziel sei es unter anderem, lebenden Patienten nach Operationen möglichst viel Lebensqualität zu schenken. Daher gehe es bei der Arbeit im Übungs-OP-Saal oft auch darum, wie man sich den Weg zu den betroffenen Gelenken bahnt, ohne zu viel Gewebe oder Gefäße zu zerstören. Manche Ärzte bringen auch gleich das ganze OP-Team inklusive Pfleger und Krankenschwestern mit. Lediglich Anästhesisten werden naturgemäß nicht benötigt.

Ein Skelett steht ebenfalls beim Essener Unternehmen Movido im Operationssaal.
Ein Skelett steht ebenfalls beim Essener Unternehmen Movido im Operationssaal. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Schoppe: „Im schlechtesten Fall wird an lebenden Patienten geübt.“ Im besten Fall üben Ärzte erst in einer der insgesamt drei privaten Körperspendeeinrichtungen in Deutschland, begleiten dann einen erfahrenen Professor bei einer echten Operation und operieren im nächsten Schritt selbst – im besten Fall begleitet von ebenjenem Professor.

Nach einigen Jahren werden Körperspender eingeäschert

„Das Training am echten Körper kann man nicht durch moderne Technik oder Simulationen ersetzten“, sagt Schoppe, der sich erinnert, wie es bei einem Seminar um Gesichtstumore ging und wie plastische Chirurgen an den Körperspendern geübt hätten, die Gesichter postoperativ wieder herzustellen. Bei Bandscheiben-Operationen an der Wirbelsäule gehe es mitunter auch darum, ein Implantat mit kleinsten Hammerschlägen in die Halswirbelsäule einzusetzen. „Ein Schlag zu viel und der Patient wäre im Fall der Fälle querschnittsgelähmt“, weiß Schoppe.

Der Übungs-Operationssaal des Essener Unternehmens Movido ist rund 400 Quadratmeter groß. Zehn Operationstische können hier aufgebaut werden.
Der Übungs-Operationssaal des Essener Unternehmens Movido ist rund 400 Quadratmeter groß. Zehn Operationstische können hier aufgebaut werden. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Ungefähr nach fünf Eingriffen sind die Körper „durchoperiert“. So auch der Familienvater, der im vergangenen Jahr schließlich eingeäschert wurde. Eine Sargbestattung komme nicht in Frage, weil der Körper konserviert ist und somit unter der Erde nicht zerfällt. Das Movido-Team kümmert sich um die Organisation und die Kosten der Bestattung, nicht allerdings um die Grabpflege. Möglich sei daher eine anonyme Urnenbestattung auf dem städtischen Friedhof am Hellweg, eine Ascheverstreuung oder eine Seebestattung.

Die Familie des ersten Körperspenders wollte den Zweifachvater jedoch wohnortnah bestatten, also wurde die Urne zurück nach Süddeutschland überführt, wo er jetzt, zwei Jahre nach seinem Tod, seine letzte Ruhe finden kann.