Essen. Kulturszene bangt um ihre Existenz. Aktionsbündnis will der Livekulturwirtschaft wieder auf die Beine helfen – auch mit Hilfe prominenter Essener
Essens Kulturszene macht sich Zukunftssorgen. Denn fast alle Livekulturveranstalter beklagen mittlerweile ein dramatisches Long-Covid-Symptom: Das Publikum kommt noch nicht im gewohnten Umfang zurück. Der Einbruch der Besucherzahlen ist drastisch, mit Umsatzrückgängen von bis zu 70 Prozent wird mancherorts kalkuliert. Weil die Lage für einige Häuser längst existenzbedrohende Ausmaße angenommen hat, haben sich viele Akteure nun zu einem städtischen Aktionsbündnis zusammengeschlossen. Noch im Oktober soll eine großangelegte Öffentlichkeitskampagne unter dem Titel „Back2live“ starten. Geplant sind unter anderem Plakataktionen mit prominenten Essenern, ein neues Podcast-Format und ein großes „Back2live“-Festival.
Die alte Leichtigkeit und Begeisterung ist einfach nicht zurückgekommen
Wie schwierig der Start in die neue Spielzeit wird, hat sich schon in den vergangenen Monaten abgezeichnet. Auch als die Covid-19-Maßnahmen aufgehoben wurden, kam die alte Leichtigkeit und Begeisterung einfach nicht zurück.
Im Vergleich zur ersten Jahreshälfte in 2019 seien in fast allen Essener Veranstaltungsbetrieben, trotz gelockerter oder gar aufgehobener Coronabedingungen, im Durchschnitt nur 57 Prozent der Zuschauer wieder zurückgekommen, heißt es im Papier einer neu gegründeten Arbeitsgruppe, zu der neben Rainer Besel und Raphael Batzik als Vertreter der Initiative Freie Szene Essen auch die Geschäftsführerin des Theater Freudenhaus, Anne Falk, und Stefan Kriegl, Kommunikationsleiter der Essener Theater und Philharmonie (TuP) gehören.
Angesichts der explodierenden Energiepreise und einer weiter unklaren Corona-Lage fürchten sie, dass sich die Lage noch zuspitzen und „zu einer nachhaltigen Reduktion des kulturellen Angebotes führen“ könne, „wenn wir nichts tun!“, so Raphael Batzik vom Theater Essen-Süd.
„Wir wollen die gesamte Livekulturwirtschaft einladen“
Bangemachen gilt aber nicht. „Wir wollen nicht ins Jammern verfallen, im Gegenteil“, versichert Rainer Besel vom Theater Freudenhaus. Die geplanten Aktionen sollen vielmehr ein „positives Signal“ aussenden: „Leute, hier passiert was in der Stadt.“ Andererseits will man eben auch zeigen, dass nach der Aufhebung der Coronamaßnahmen längst nicht wieder alles beim Alten ist.
Und das, so Besel, betreffe eben nicht nur die Theater der Stadt. Kinos und Konzertveranstalter, Clubs und Literaturcafés, sie alle erleben nach Corona eine mehr oder minder deutliche Publikumszurückhaltung „Wir wollen deshalb im Grunde die gesamte Livekulturwirtschaft einladen, alles, was eine Bühne hat“, formuliert Batzik die Einladung an weiterer Mitstreiter. Das breit aufgestellte Aktionsbündnis bekommt dabei auch finanziellen Rückhalt der Stadt.
Die Plakataktion mit prominenten Essenern etwa wird von der beim Kulturamt angesiedelten Stabsstelle Kultur- und Kreativwirtschaft unterstützt. Wen man auf den Plakaten sehen wird, ist derzeit noch in Verhandlung, eine Reihe von stadtbekannten Musikern, Medizinern, Köchen, Politikern und Künstlern ist allerdings schon angefragt. Sie sollen nicht nur für Essens reiche Theaterlandschaft werben, sondern als „Pate“ auch kleine Gastauftritte in den Häusern haben und damit Aufmerksamkeit erzielen. Ebenfalls geplant ist eine Podcast-Reihe unter dem Titel „Halt auf freier Szene“: Mit einem mobilen Sofa im Gepäck will man dabei durch die Stadtteile wandern und mit verschiedenen Gästen aus der Kulturbranche ins Gespräch kommen.
Das Problem betrifft viele – alle an einem Tisch
Der Sparten-übergreifende, gemeinsame Schulterschluss vieler Essener Akteure ist in dieser Form dabei wohl einmalig. „Wenn es ein Problem gibt, das alle betrifft, versammeln sich auch viele an einem Tisch“, konstatiert Raphael Batzik.
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Über die Gründe für die Publikumszurückhaltung rätseln freilich nicht nur die Liveveranstalter in Essen. Ist es immer noch die Angst vor Ansteckung, die Sorge vor weiteren finanzielle Belastungen durch die Energiekrise, ein mittlerweile eingeübter Rückzug in die eigenen vier Wände, oder hat sich das Konsumentenverhalten im Freizeitbereich generell geändert? Womöglich sorge auch der Produktionsstau durch nachzuholende Premieren für ein Überangebot, lautet eine Mutmaßung der neuen Arbeitsgruppe. Und manche würden sich lieber feiernd ins Nachtleben stürzen, „um mal den Kopf freizubekommen“, so Batzik.
Doch wenn die Livekultur irgendwann wegfalle, werde „eine wesentliche gesellschaftliche Instanz wegbrechen, die relevante Fragen unserer Zeit stellt, kommentiert oder bewertet und nicht nur maßgeblich zur kulturellen, sondern auch zur gesellschaftlichen und sozialen Bildung beiträgt“, warnt das Aktionsbündnis. Und diese Vorstellung könne eigentlich niemandem gefallen.