Essen. Verluste, Schicksalsschläge, Ängste: Wenn alte Menschen depressiv werden, kann das viele Gründe haben. Zwei Betroffene aus Essen erzählen.

Die Corona-Pandemie hat ein Schlaglicht auf viele gesellschaftliche Probleme geworfen, die schon vorher eklatant waren. Eines davon ist die Tatsache, dass viele alte Menschen nur noch wenige Kontakte haben, wenn der Partner verstorben ist, dass sie an Einsamkeit und Isolation leiden. Wenn menschliche Begegnungen rar werden, kann das in eine tiefe Verzweiflung stürzen, die bis zur Depression reicht. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum alte Menschen unter psychischen Krankheiten leiden. Zwei Essenerinnen erzählen ihre Geschichte.

Beate Krüger, die eigentlich anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, leidet seit dem Zweiten Weltkrieg unter einer generalisierten Angststörung. Als Kind erlebte die 84-jährige Kettwigerin in Bochum, wie die Bomben fielen. Einmal hat ein Blindgänger das Haus getroffen, in dem sie lebte. „Es war ein furchtbares Gefühl“, erzählt sie. „Die Frau von oben kam heruntergerannt, grün und blau im Gesicht und bedeckt vom weißen Staub, den die Bombe hinterlassen hatte. Ein anderer Mann war gestorben.“

Essenerin: Corona brachte alte Traumata zutage

Seitdem bestimmte ein diffuses Angstgefühl ihr Leben. Auch und vor allem, weil danach kamen. Zwei ihrer fünf Kinder starben völlig unerwartet, ein Sohn verunglückte im Alter von neun Jahren, der andere starb mit 34 an einer Hirnblutung. Später ging ihre Ehe in die Brüche. „Ich habe viel zu früh geheiratet und musste immer zurückstecken“, sagt die 84-Jährige heute.

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Irgendwann habe sie sich jedoch aufgerappelt und die vergangenen zehn Jahre glücklich gelebt. Doch dann kam Corona. Am Anfang habe sie sich in blinden Aktionismus gestürzt, die ganze Wohnung renoviert. „Aber dann sind die Bilder im Fernsehen immer schlimmer geworden“, sagt die 84-Jährige. Die Angst aus Kriegszeiten, dieses beengende, klaustrophobische Gefühl sei zurückgekehrt. „Dass ich dann auch meine Kinder nicht mehr so oft sehen konnte, hat mich sehr unglücklich gemacht“, sagt sie. „Ich habe mich einsam gefühlt.“ Es geht ihr nicht gut damit, über das Thema zu sprechen. Unser Gespräch muss sie irgendwann abbrechen.

Essener Psychiater: Kontaktarm ist erheblicher Risikofaktor für Altersdepression

Professor Martin Schäfer ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Suchtmedizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte.
Professor Martin Schäfer ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Suchtmedizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. © Evangelische Kliniken Essen-Mitte

In der psychiatrischen Klinik der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) ist Krüger nach ihrer letzten depressiven Phase über mehrere Wochen behandelt worden. Prof. Dr. Martin Schäfer ist Direktor der Klinik. Er blickt mit Sorge auf die Folgen der Corona-Pandemie. „In den vergangen zwei Jahren haben wir erlebt, dass ältere Menschen ihre Aktivitäten immer stärker reduziert haben“, erklärt er. Wenn die Kontakte im Alter zurückgingen, dann sei das ein erheblicher Risikofaktor für Depressionen.

Manchmal ist es aber auch ganz anders. Petra Blum (72, Name geändert) aus Rüttenscheid hat viele Freunde und Bekannte. Vor allem mit ihrer Nachbarin versteht sie sich gut, hielt während der Corona-Zeit engen Kontakt. Warum sie immer wieder im Leben unter depressiven Episoden litt, konnte sie nie wirklich herausfinden. Die behandelnden Ärzte haben ihr gesagt, dass sie sich nicht in der Frage nach dem Warum verlieren sollte.

Rüttenscheiderin über ihre Depression: „Mir fällt alles schwer“

Zum ersten Mal erkrankte Blum im Alter von 37 Jahren an einer Depression. Zwei Jahre zuvor hatte ihre eigene Mutter, auch depressiv, versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr Mann half ihr mit viel Liebe, die Krankheit zu überstehen. Doch sie kam immer wieder. Zum Beispiel als Blum nach einem langen, erfüllten Berufsleben in Rente ging und auf einmal auf einen gänzlich leeren Terminkalender blickte. Richtig den Boden unter den Füßen wegzog es ihr aber, als ihr Mann 2019 vom einen auf den anderen Moment starb.

Höheres Suizidrisiko bei Älteren

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gehören Depressionen neben Demenzerkrankungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter.

Außerdem steigt das Suizidrisiko mit zunehmendem Alter, insbesondere bei Männern, an. Etwa 35 Prozent aller Suizide werden nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe von Menschen über 65 Jahren verübt. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt aber nur ca. 21 Prozent.

Weil sich depressive Störungen im Alter durch auftretende Sprech- und Denkhemmung, Konzentrationsstörungen und Gedächtnisstörungen äußern können, ist eine genaue Abgrenzung zur Demenz nötig.

Wer an Depressionen leidet, findet in Essen an mehreren Stellen Hilfe. Ansprechpartner sind zum Beispiel das Essener Bündnis gegen Depressionen (info@ebgd.de) oder der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt (201 88-53446).

„Er ist einfach zusammengebrochen und war tot“, sagt Blum, und kämpft dabei mit den Tränen. „Er hielt noch den Telefonhörer in den Händen, weil er wohl den Rettungsdienst rufen wollte.“ 49 Jahre seien sie zusammen gewesen, davon 44 verheiratet. Eine tolle Ehe sei das gewesen, sagt die 72-Jährige. Und nun müsse sie alles allein schaffen.

Wenn die Depression komme, dann spüre sie zuerst Antriebslosigkeit. „Mir fällt alles schwer“, schildert Blum. Aus ihrem Umfeld erhalte sie viel Unterstützung und habe sich nie stigmatisiert gefühlt. Das sei viel wert, sagt sie, denn immer wieder erlebe sie in den Gruppentherapien der KEM, dass Freunde und Familie von anderen depressiven Patientinnen und Patienten ganz anders reagierten. „Stell dich nicht so an“, heiße es da nicht selten. Trotzdem habe sie immer wieder Angst vor den mitleidigen Blicken, wenn sie zugeben müsse: Es geht schon wieder los. Mit dem Wissen, dass das jederzeit passieren könnte, lebt sie von Tag zu Tag.