Essen. Behörden ziehen Schlussstrich unter die Ermittlungen im paraguayischen Entführungsdrama: Strafbefehle zur Haft auf Bewährung beantragt.
Nach dem Ende der monatelangen Paraguay-Odyssee zweier Mädchen aus Essen und München kann nun auch die hiesige Justiz einen Schlussstrich unter das unfassbare Entführungsdrama ziehen, das seit Mai immer wieder für internationale Schlagzeilen gesorgt hat: Wegen Entziehung Minderjähriger hat die Staatsanwaltschaft gegen die beiden lange von internationalen Behörden gesuchten Elternteile von Lara und Clara Strafbefehle für eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe beim Amtsgericht Essen beantragt.
Außerdem sollen Anna Maria E. und Andreas Rainer E., die die beiden zehn und elf Jahre alten Kinder gegen den Willen ihrer Ex-Partner über einen Zeitraum von sieben Monaten nach Südamerika verschleppt haben, „eine erkleckliche Summe an eine Kinderschutzorganisation zahlen“, sagte Oberstaatsanwältin Anette Milk auf Nachfrage dieser Zeitung, ohne weitere Details zu nennen.
Damit dürfte das Querdenker-Paar recht glimpflich davongekommen sein: Denn laut Paragraf 235 des Strafgesetzbuches kann das Vergehen auch mit einer Haft von bis zu fünf Jahren bestraft werden.
Die beiden 46 und 35 Jahre alten Eheleute waren mit internationalen Haftbefehlen gesucht worden, nachdem sie die Mädchen den beiden jeweils anderen Elternteilen vor einem dreiviertel Jahr gegen deren Willen entzogen hatten.
Die versprochene Reise nach London fand nie statt
Es war ein Freitag im November 2021, als Andreas E. seine Tochter an ihrem zehnten Geburtstag mit einem besonderen Geschenk überraschte. Ein Wochenende London ist angeblich angesagt. Claras Mutter schöpft keinen Verdacht, als sie den Reisepass der Zehnjährigen ihrem Ex-Mann übergibt. Den benötigt man schließlich für eine Einreise nach dem Brexit.
Dass ihr Ex-Mann, der Covid-Leugner, der alle Infektionsschutzverordnungen nicht nur für sich, sondern auch für seine Tochter ablehnt, statt einer Reise nach England den Abflug nach Paraguay, dem verheißenen Land für deutsche Querdenker, plant, das kam ihr nicht in den Sinn. Bis ihr klar wird: Die versprochene Reise nach London hat nie stattgefunden. Ihr Kind wurde verschleppt.
Vater und Tochter flogen über Zürich in der Schweiz nach Madrid, dem internationalen Drehkreuz für Flüge von und nach Lateinamerika. Und Andreas E. mit Clara ist nicht allein unterwegs, sondern in Begleitung seiner neuen Ehefrau Anna (35) aus München und deren elfjähriger Tochter Lara. Gemeinsam taucht das Quartett unter und hinterlässt daheim schlimmste Verzweiflung.
Das erste Lebenszeichen kommt per Post
Das erste langersehnte Lebenszeichen der Vier auf der Flucht, es kommt per Post, gerichtet an Claras Mutter in Essen und Laras Vater in München, und es ist niederschmetternd. Sie lesen Sätze, die nicht nur sie fassungslos machen: „Wir möchten euch hiermit darüber in Kenntnis setzen, dass wir unsere Wochenend-Reise mit den Kindern auf unbestimmte Zeit verlängern werden“, steht dort auf zweieinhalb eng beschriebenen DINA4-Seiten.
Sie hätten einfach „die Reißleine gezogen“, die nach eigenem Bekunden „schwerste Entscheidung, die wir in unserem Leben bisher getroffen haben“, ausgelöst durch die „prekäre politische Situation“ in und um Deutschland herum: Die zwinge sie zur Flucht.
Tage später erfährt die Essenerin: Ihr Ex-Mann und seine neue Lebensgefährtin sind mit den Mädchen nach Paraguay geflohen, die Ermittlungsbehörden bis hin zu Interpol werden eingeschaltet, die Botschaft eingeweiht, es gibt einen Verbindungsmann des Bundeskriminalamtes und schließlich auch internationale Haftbefehle, die nach schier endlosen Wochen hilflosen Zuwartens in Paraguay eintrudeln.
Ein erster geplanter Zugriff scheitert
Mehrfach reist die Mutter von der Margarethenhöhe in das südamerikanische Land, um nach den Kindern zu suchen. Sie muss erleben, wie ein erster geplanter Zugriff scheitert, weil die Eltern auf der Flucht vermutlich einen Tipp bekommen haben. Um Ruhe ins Verfahren zu bringen, kehrt sie zwischendurch wieder zurück nach Deutschland, doch lange hält sie es daheim nicht aus.
Erst eine mit den Behörden vor Ort eingestielte Öffentlichkeitsfahndung bringt die erhoffte Wende in diesem unfassbaren Fall. Kurz nachdem sich die Essenerin mit einem verzweifelten Appell in internationalen Medien zu Wort gemeldet hatte, wird ein Fluchtwagen der E.s nahe der argentinischen Grenze sichergestellt und ein Verdächtiger festgenommen. Es ist der Besitzer des Fahrzeugs, der ihnen sein Auto vermietet haben soll, mit dem sie vermutlich nach Argentinien flüchten wollten.
Zeitversetzt tauchen zwei verstörende Videos auf Internetplattformen auf, in denen Andreas und Anna E., aber auch deren Töchter fordern, sie nicht weiter zu verfolgen. Doch die Fahnder halten den Druck hoch, bis zum guten Ende: Am 9. Juni beendet das gesuchte Ehepaar seine Flucht und stellt sich nahe der Stadt Encarnación den paraguayischen Behörden. Am 12. Juni weist ein Gericht in Paraguay die Ausreise der beiden entführten Kinder an der Seite der jeweils hintergangenen Elternteile an.
Am 7. Juli schließlich reisen Anna und Andreas E. nach Deutschland ein. Sie werden am Flughafen festgenommen.