Essen-Werden. Im Juli 2021 schnitt die Ruhr-Flut Bewohner in Essen-Werden von der Außenwelt ab. Sie wurden mit Booten evakuiert. So geht es ihnen heute.

In Werden fließt die Ruhr träge vorbei. Zwei Stand-up-Paddler haben Spaß, im Löwental wird gegrillt. Michaela und Thorsten Gerigk stehen auf ihrem Balkon an der Laupendahler Landstraße und lassen das friedliche Bild auf sich wirken. Genau vor einem Jahr standen die beiden in triefend nassen Klamotten ein wenig verloren an einer Sammelstelle der Feuerwehr – mit nichts anderem als zwei hastig gepackten Rucksäcken und zwei Katzenkörben.

Einige Häuser waren von der Außenwelt abgeschnitten

Die Flut vom 15. Juli vergangenen Jahres überraschte die Bewohner der Laupendahler Landstraße. Durch das rapide steigende Wasser der Ruhr waren einige Häuser komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Freiwillige Feuerwehr und DLRG mussten damals mit Schlauchbooten anrücken, um die Bewohner zu evakuieren. Thorsten Gerigk lobt die Helfer: „Die Einsatzkräfte sind über ihre Grenzen gegangen. Die waren am Ende und haben doch weitergemacht.“

Die Rettungskräfte kamen mit dem Schlauchboot, um die Bewohner an der Laupendahler Landstraße aufzunehmen.
Die Rettungskräfte kamen mit dem Schlauchboot, um die Bewohner an der Laupendahler Landstraße aufzunehmen. © Galla

Mit dem Boot wurden die Evakuierten zum Hohensteinweg und mit einem Bus weiter zum Kastellgraben gebracht. Dort wurden sie registriert und gefragt, ob sie eine Unterkunft bräuchten. Das Werdener Ehepaar kam bei Freunden unter. Andere wurden in Hotels untergebracht. Die große Hilfsbereitschaft linderte die Angst, die sie in diesen Stunden verspürten.

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Aus höflich grüßenden Nachbarn wurden in der Not Freunde

Durch die gemeinsam durchgestandene Not wurden aus höflich grüßenden Nachbarn Freunde. Michaela Gerigk strahlt: „Die Hausgemeinschaft ist zusammengewachsen. Wir waren voll mit Schlamm und standen völlig fertig beisammen und haben uns gegenseitig Mut gemacht.“

Im Herbst 2021 gab es vor Ort eine lange Dankeschön-Tafel mit Nachbarn und Helfern.
Im Herbst 2021 gab es vor Ort eine lange Dankeschön-Tafel mit Nachbarn und Helfern. © Gerigk

In einer Whatsapp-Gruppe werden seitdem neueste Infos geteilt. Mehrere Monate nach dem Jahrhundertereignis, im Herbst 2021, gab es sogar vor Ort eine lange Dankeschön-Kaffeetafel mit Nachbarn und Helfern.

Blick gilt seitdem dem Pegelhäuschen schräg gegenüber

Die 38-Jährige kann die Erinnerungen an den Juli 2021 einfach nicht abschütteln: „Wir selbst wohnen erst seit 2010 hier. Aber auch die Alteingesessenen konnten sich solch ein Hochwasser nicht vorstellen. Wir alle haben das unterschätzt.“ Sobald es heftiger regne, gelte seitdem ihr Blick dem Pegelhäuschen schräg gegenüber: „Oh nein, es ist gestiegen…“ Ihr Gatte nickt: „Natürlich wissen wir, dass unsere Sorgen weitgehend unbegründet sind. Es auch nicht direkt Panik. Aber bei starkem Regen schaut man angespannt aus dem Fenster.“ Und: „Das Notfallpaket ist gepackt mit den wichtigsten Sachen und Unterlagen.“

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Kritik gebe es auch, sagt Michaela Gerigk: „Wir sind letztlich kontrolliert abgesoffen. Das wurde genau gesteuert. Die Talsperren waren voll, mehrere Stauwehre wurden geöffnet. Durch die starke Flutwelle wurde unser Ufer förmlich überrollt.“ Doch niemand habe sie und ihre Nachbarn gewarnt vor diesen Ausmaßen, klagt Thorsten Gerigk: „Wir haben keine Vorwarnung bekommen und nicht jeder hat die Nina-Warn-App installiert. Es gab keine Sirene und Radio Essen brachte auch keinen entscheidenden Hinweis. Warum sind sie nicht mit dem Megafon durch die Straßen gegangen?“

Einige Lokalpolitiker hätten sich gekümmert, so der 53-Jährige: „Daniel Behmenburg und Benjamin Brenk haben auf dem kleinen Dienstweg organisiert, dass die EBE hilft. Wir hatten große Sorge, dass der Müll, der sich hinterher am Straßenrand getürmt hat, Ratten anzieht.“ Von der Stadtspitze oder dem Ruhrverband sei nie jemand vorbeigekommen.

Vieles an Inventar wurde unwiederbringlich zerstört

Der Sperrmüll aus den Wohnungen säumte die Straße. Die Anwohner waren entsetzt, dass Fremde dort nach Verwertbarem suchten.
Der Sperrmüll aus den Wohnungen säumte die Straße. Die Anwohner waren entsetzt, dass Fremde dort nach Verwertbarem suchten. © Gerigk

Das Haus völlig verwaist zu lassen, kam vielen Bewohnern der Laupendahler Landstraße doch recht merkwürdig vor, sagt Thorsten Gerigk: „Wir hatten ein mulmiges Gefühl.“ Und wirklich tummelten sich recht bald dunkle Gestalten auf dem Hinterhof und suchten nach Verwertbarem. Die Anwohner waren entsetzt ob solcher Dreistigkeit und auch verunsichert.

Was hat die Stadt gelernt aus der Katastrophe?

Am Jahrestag (15. Juli) treffen sich Anwohner der Laupendahler Straße mit dem Essener Ordnungsdezernenten Christian Kromberg zu einem Gespräch. Die Werdener möchten wissen, was die Stadt seit der Hochwasserkatastrophe getan hat oder noch tun wird, um sich handlungsfähiger zu machen und die Bürger besser zu informieren.

Die Anwohner erhoffen sich „einen wertschätzenden und zielorientierten Austausch“. Nichts alles habe gefallen, was man vor einem Jahr erlebt habe. Es gebe erkennbaren Optimierungsbedarf. Daher wolle man wissen: „Was hat die Stadt Essen gelernt? Was würde sie zukünftig anders und besser machen?“

Erst fünf Tage nach der großen Flut gab es wieder Strom in den Wohnungen. Derweil ging das große Aufräumen weiter. Michaela Gerigk lächelt: „Solange alles nass war, ging das noch gut. Doch dann trocknete der Schlamm und wurde steinhart.“ Vieles an Inventar im Keller wurde unwiederbringlich zerstört: Fotos, Erinnerungen, geliebte Kuscheltiere aus der Kindheit, das gute Geschirr von der Oma.

Thorsten Gerigk resümiert: „In diesen Tagen sind wir alle über uns hinaus gewachsen. Noch einmal brauche ich das nicht.“ Michaela Gerigk erinnert sich: „Von den Aufräumarbeiten war ich körperlich ausgelaugt und seelisch überfordert, kurz vorm Heulen. Wildfremde Menschen haben mich in den Arm genommen. Solche tröstenden Gesten haben unheimlich gut getan.“