Essen. Essener Ruhr Museum ist um ein einzigartiges Bilderkonvolut reicher. Reportage-Fotografin dokumentiert vor allem das soziale Leben im Ruhrgebiet.
Wenn man das Leben im Ruhrgebiet mal als bunte Tüte betrachtet, dann bietet das fotografische Werk von Brigitte Kraemer wohl die umfangreichste Auslage. Nicht nur ihre Büdchen-Bilder sind mittlerweile zu Ikonen geworden. In den vergangenen 40 Jahren hat die Meisterin der Reportage-Fotografie das soziale Leben im Ruhrgebiet in allen erdenklichen Facetten mit der Kamera eingefangen – zwischen Schrebergarten und Swingerclub, Babyschwimmen und Binnenschifffahrt. Lange Zeit analog, meist in Schwarzweiß und so vielfältig, dass die Fotografische Sammlung im Essener Ruhr Museum nun gleich um 360.000 Bildeinheiten wächst.
Der Ankauf des fotografischen Lebenswerkes von Brigitte Kraemer sei einer der bedeutendsten und auch der „umfangreichste Ankauf, den wir jemals gemacht hat“, freut sich Theo Grütter, Direktor des Ruhr Museum, das die Übernahme des einzigartigen Fotokonvoluts mit bedeutender Unterstützung der Krupp-Stiftung ermöglichen konnte.
Der Ankauf schließt nach Angaben von Stefanie Grebe, Leiterin der Fotografischen Sammlung, auch zwei Lücken des an Fotoschätzen nicht armen Ruhr Museums. Zum einen wird erstmals das bedeutende Konvolut einer Fotografin übernommen. Zum anderen bekommt das noch unterrepräsentierte Thema der Migration mit den Aufnahmen von Brigitte Kraemer neuen Stellenwert. Die vielfach ausgezeichnete Fotografin hat entdeckt in Deutschland, einig „KleinGartenLand“ die multikulturelle Vielfalt, ist bei türkischen Hochzeiten dabei und beim Hindufest in Hamm.
Die Vielfalt des menschlichen Seins und Glaubens beschäftigt die 1954 in Hamm geborene Kraemer schon früh. „So nah, so fern“, eine ihrer frühesten Serien, die sie damals mit Hilfe eines Arbeits-Stipendiums realisieren kann, wird ein Auslöser, ein Glücksfall, weil sie merkt: „Das ist mein Ding, lange an Themen zu fotografieren.“ Sie übernimmt zwar auch Auftragsarbeiten für den „Stern“, die „Zeit“ oder die „Brigitte“. Oft aber wendet sich die Fotografin Themen zu, ohne zu wissen, „ob ich das überhaupt verkaufen kann“. Meistens aber klappt es, wenn Kraemer ihre Projekte vorstellt, und damit auch die öffentliche Wahrnehmung des Ruhrgebiets prägt – und Kultthemen setzt.
Die Fotografische Sammlung
Die Fotografische Sammlung des Ruhr Museums ist eine der größten Sammlungen zur Dokumentarfotografie in Deutschland. Zu den Beständen zählen etwa vier Millionen Bildeinheiten. Durch den Ankauf des Lebenswerkes von Brigitte Kraemer kommen nun rund 360.000 Prints, Vintages, Dias und Negative hinzu.
Mit Hilfe der Krupp-Stiftung konnten in den vergangenen Jahren schon zentrale Konvolute bedeutender Fotografen wie Henning Christoph, Joachim Schumacher, Dieter Münzberg und Ergun Cagatay erworben werden. Damit wurde umfangreiche Ausstellungen ermöglicht, die nicht nur in Essen, sondern auch in Hamburg und Berlin, in Istanbul und Ankara zu sehen waren.
Sie besucht Camper an Rhein, Ruhr und Lippe, besichtigt türkische Kleingärten in Herne und trifft „Mann und Auto“ am Rhein-Herne-Kanal. Viele ihrer Bilder erscheinen in Fotobänden oder werden mehrseitig in Magazinen abgedruckt. Oft gibt es Folgeaufträge. Heute fast undenkbar. „Das Interesse an sozialen Themen, Themen des Alltags, verschwindet immer mehr“, bedauert Kraemer.
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Dass sie über die Jahre zur Chronistin des Ruhrgebiets wird, ist nicht ihr großer Plan, „es ist einfach Tatsache, dass ich hier lebe“, sagt Kraemer. Viele Motive findet sie vor der Haustür und sieht dabei doch manches neu und anders. „Ich habe keine fertigen Bilder im Kopf“, beschreibt Brigitte Kraemer ihre Arbeit. Aber sie hat feine Antennen für das, was sich um sie herum abspielt.
Große Empathie und ein bisweilen feiner Humor prägen die Arbeit dieser Humanistin an der Kamera, die sich im Laufe ihrer Karriere immer wieder gefragt hat, ob Bilder die Welt verändern können. Zumindest sie selber leistet immer wieder ihren kleinen Beitrag. Noch heute begleite sie manche der Flüchtlinge, über die sie 2016 eine große Reportage macht, zu Ämtergängen. Die Serie über das Friedensdorf Oberhausen, wo Brigitte Kraemer als erste Fotografin überhaupt kriegsverletzte afghanische Kinder über Monate begleiten und ablichten kann, ist damals mit einem Spendenaufruf versehen und spielt 200.000 Euro ein. Und die Bilder aus Frauenhäusern, die schon Thema ihrer Examensarbeit waren und, neu aufgelegt, seit 2014 als Wanderausstellung durch die Republik tourt, gehören zu den wenigen Dokumenten, die Einblick in diese geschützten Einrichtungen gewähren.
„Ich gehör’ auf die Straße, nicht in einen Hörsaal“
Zwei Jahre lang hat Kraemer, die ausgebildete Steuergehilfin, die 1976 ihr Studium an der Folkwang Gesamthochschule beginnt, auch selber Bildjournalismus unterrichtet. Und gemerkt: „Das bin ich nicht. Ich gehör’ auf die Straße, nicht in einen Hörsaal.“ Der direkte, nahbare Umgang, die unprätentiöse und unvoreingenommene Art und das ehrliche Interesse dürften ein Großteil des Geheimnisses sein, wie Brigitte Kraemer es immer wieder schafft, als Betrachterin praktisch in einem Milieu aufzugehen, um mit der Kamera unbeobachtet zu beobachten.
Dass sich die Menschen in ihren Bildern so sehen wie sie sind, gehört gewiss auch zum Erfolgsrezept. „Der Realismus ist ihr sehr wichtig“, sagt Stefanie Grebe. Brigitte Kraemer inszeniert nicht, schönt nicht, nimmt zur Not auch mal Unschärfen in Kauf, wenn es der richtige Moment für ein Bild ist.
Und so ist es nicht überraschend, dass Kraemer Fotografenikonen wie Robert Frank oder Henri Cartier-Bresson zu ihren Vorbildern zählt. Als Flaneurin des Augenblicks ist Brigitte Kraemer im Ruhrgebiet mit dem Fahrrad unterwegs. Am Kanal oder momentan an der Ruhr, wo ihre aktuelle Fotoserie entsteht. Das Lebenswerk wird also weiter wachsen. Dass es nun schon zu Lebzeiten als Vorlass ans Ruhr Museum kommt, hat für alle Beteiligten große Vorteile. So kann der Ankauf über vier Jahre gestaffelt ans Haus kommen – thematisch geordnet, digitalisiert, umfänglich beschriftet und damit gleich zugriffsfähig für die Kraemer-Ausstellung, die voraussichtlich 2025 geplant ist.