Essen. 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Ruhr Museum zeigt Fotos von Ergun Çağatay. Welche Bedeutung die Bilder aus den 1990ern heute haben.
Deutschland, einig Arbeitsland. Als Ergun Çağatay 1990 seine Reportagereise durch die Republik startet, ist die Berliner Mauer gerade gefallen. Die Grenzen für Arbeitsmigranten sind da schon viel länger offen. Millionen von Polen, Italienern, Portugiesen und Türken, sie alle haben der deutschen Wirtschaft seit Ende der 1950er auf die Beine geholfen. Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen gibt dem Vorhaben 1961 noch einmal einen weiteren Schub. Zum 60. Jahrestag des Vertrages, der am 30. Oktober 1961 geschlossen wurde, präsentiert das Ruhr Museum auf der Zeche Zollverein nun eine große Sonderausstellungen zum Thema Arbeitsmigration mit Fotografien des türkischstämmigen Fotografen Ergun Çağatay: „Wir sind von hier.“
Fotos entstehen bei der Arbeit, auf Festen und beim Besuch in der Moschee
Çağatay selber kann die Ausstellung nicht mehr erleben, er starb 2018 mit 81 Jahren. Was er an dokumentarischem Fotomaterial zum Thema Einwanderung hinterlassen hat, gilt als einzigartig. „Nie zuvor wurde das Thema des türkischen Lebens in Deutschland so facettenreich fotografisch dokumentiert“, sagt Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums.
Rund 3500 Fotografien aus Arbeitswelt, Gemeinschafts- und Familienleben macht Çağatay während seiner mehrwöchigen Deutschlandreise im Auftrag der Pariser Agentur Gamma. Sie beginnt damals in Hamburg und endet in Duisburg-Walsum. Sie zeigt Çağatays Landsleute bei der Arbeit, auf Festen, Versammlungen, Demonstrationen und beim Besuch in der Moschee.
120 Aufnahmen – teils in Farbe, teils Schwarz-Weiß, einige davon im Großformat, manche als mediale Installation arrangiert – wurden nun für die Ausstellung ausgewählt. Die teils vertrauten Motive, die in den vergangenen Jahrzehnten schon eine gewisse mediale Abnutzung erfahren haben, bekommen nicht nur durch die Hängung in den Bunkerräumen der Kohlenwäsche eine neue Aura.
Die Brücke in die Gegenwart sollen vor allem aber die Videointerviews schlagen, die Co-Kuratorin Alexandra Nocke unter anderem mit der Soziologin Necla Kelek, dem Sternekoch Ali Güngörmüs, der Profi-Fußballerin Tugba Tekkal und Investigativ-Journalist Günter Wallraff als einzigem nicht-türkischen Gesprächspartner geführt hat. Sein Buch „Ganz unten“ sei damals für viele der Großeltern-Generation Ermutigung gewesen, erstmals über ihre bedrückenden Erfahrungen zu berichten, sagt Nocke.
Fotoschau wird auch in Istanbul, Ankara und Izmir gezeigt
Die meisten türkischstämmigen Migranten, die der international tätige Çağatay damals für seine Reportage „Türken in Deutschland 1990 – Die zweite Generation“ in Hamburg und Berlin, in Köln, Werl und Duisburg trifft, sind auch gar nicht gekommen, um zu bleiben, doch sie sind immer noch da. Schuften auf der Werft von Blohm & Voss, stehen am Fließband der Ford-Werke in Köln-Niehl, führen ihre eigenen Lebensmittel- und Döner-Läden oder fahren in Duisburg als Kumpel ein. „Unter Tage waren alle gleich“, sagt Bärbel Bergerhoff-Wodopia aus dem Vorstand der RAG-Stiftung, die das Projekt maßgeblich fördert. Neben Essen und den weiteren deutschen Stationen Hamburg und Berlin wird die Ausstellung auch in Istanbul, Ankara, Izmir zu sehen sein.
Überhaupt ist das Projekt um Vielfalt bemüht. Alle Ausstellungs- und Katalogtexte sind zweisprachig verfasst, auch das Begleitprogramm der Ausstellung zielt auf Diversität und Teilhabe. Es gibt Lesungen, Konzerte, Workshops, türkische Kochkurse und eine deutsch-türkische Kulturnacht Anfang September mit vielen Aktiven.
Die Zuwanderung bekommt ein Gesicht
Infos zur Ausstellung
„Wir sind von hier. Deutsch-türkisches Leben 1990.“ 21. Juni bis 31. Oktober. Zeche Zollverein, Ruhr Museum, Gelsenkirchener Str. 181.
Öffnungszeiten: täglich 10 bis 18 Uhr. Eintritt 7/erm. 4 Euro. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog. Mehr Infos zum Programm. www.ruhrmuseum.de
„Durch die Geschichten und Erfahrungen der Menschen bekommt Zuwanderung ein Gesicht, besser gesagt: viele Gesichter“, sagt Staatsministerin Michelle Müntefering über die Ausstellung. Es ist der offene Blick der achtköpfigen Familie Gül auf dem mächtigen Wohnzimmersofa, das schüchterne Lächeln der türkischen Mädchen, die auf dem Trödelmarkt in Berlin sowjetische Uniformteile verkaufen, die Wut der Demonstranten, die 1990 gegen die Novelle des Ausländergesetzes angehen, das rußgeschwärzte Antlitz eines Kumpels unter Tage oder der scheue Besitzer-Stolz des Ehepaares in ihrem rosarüschenen Schlafzimmer – integrative Spießbürgerlichkeit.
Es sind Bilder einer Zeit, in der der Brandanschlag von Solingen, die Ausschreitungen in Hoyerswerda und die NSU-Morde noch kein Stresstest für den Wunsch nach einem multikulturellen Miteinander sind. Çağatay, der 1983 selbst ein Attentat dreier armenischer Asala-Terroristen am Pariser Flughafte Orly knapp überlebt, zeigt ein Deutschland im Übergang, als es noch fest überzeugt ist, kein Einwanderungsland zu sein. Um das Panorama der deutsch-türkischen Lebenswelt in den nächsten Jahren weiterzuzeichnen, plant das Ruhr Museum weitere Fotografie-Projekte. Der Ankauf der Çağatay-Sammlung mit Hilfe der Krupp-Stiftung soll dabei ein wichtiger Baustein sein.