Essen. Rund 5000 Fahrradstellplätze will die Stadt Essen schaffen, und zwar auch auf Kosten von bis zu 1000 Pkw-Parkplätzen. Ärger scheint programmiert.
Man kennt das von Versicherungspolicen oder vom Kauf einer neuen Waschmaschine: Es kommt aufs Kleingedruckte an: Mit großer Mehrheit hat der Rat der Stadt im August 2020 beschlossen, jene Ziele umzusetzen, die der „Radentscheid Essen“ in einem Bürgerbegehren formuliert hatte. Nicht weniger als 220 Millionen Euro will die Stadt Essen in den kommenden Jahren in den Ausbau des Radverkehrs investieren – unter anderem in neue Fahrradstellplätze. Doch das hat seinen Preis. Hochgerechnet könnten dafür bis zu 1000 Pkw-Stellplätze wegfallen.
5000 Fahrrad-Stellplätze will die Stadt bis zum Jahr 2030 ausweisen, die ersten 300 davon noch in diesem Jahr. So sieht es der Zeitplan der Stadt vor. Wo heute ein Auto parkt, könnten bis zu fünf Fahrräder abgestellt werden, heißt es. Hinzu kommen 500 Stellplätze für Lastenräder. Diese vergleichsweise wuchtigen Transporträder sieht man noch selten auf Essens Straßen. Aber das könnte sich ja ändern. Auch Lastenradfahrern will es die Stadt leichter machen.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) hätte sich ehrgeizigere Ziele gewünscht
Fahrräder benötigen Platz. Und davon gibt es nicht genug, beklagt der Allgemeine Deusche Fahrradclub (ADFC). Ginge es nach der Fahrradlobby, die Stadt hätte sich sogar ehrgeizigere Ziele gesteckt. „Uns geht das nicht weit genug“, sagt Sehnke mit Hinweis auf die 5000 Fahrradstellplätze. Doch schon das könnte zum Problem werden für jene, die lieber mit dem Auto fahren. Denn die Stadt will Pkw-Stellplätze in Stellplätze für Fahrräder umwidmen.
Bisher wurden sogenannte Fahrradabstellanlagen auf oder an Bürgersteigen platziert. Vorausgesetzt, der Gehweg war breit genug, damit Fußgänger noch an den Rädern vorbeikommen. „Aber wo bleiben schon 1,50 Meter für Fußgänger übrig?“, fragt ADFC-Sprecher Mirko Sehnke.
Maximal jeder zehnte Stellplatz eines Straßenabschnitts soll umgewidmet werden
An Straßen, wo das nicht der Fall ist, verzichtet die Stadt bislang auf das Aufstellen von Fahrradbügeln. So soll es nicht weitergehen, weshalb die Verwaltung auf Stellplätze für Autos zurückgreifen will. Pro Straßenabschnitt soll maximal jeder zehnte Kfz-Stellplätze fürs Fahrradparken genutzt werden. Das aber nur dort, wo sich im Umfeld keine Alternativen anbieten, wie die Verwaltung betont.
Zwischen den Zeilen klingt durch: Was die Stadt da vorhat, könnte für Diskussionsstoff, ja für Ärger sorgen. Auch wenn es sich um die Umsetzung eines gültigen Ratsbeschlusses handelt.
Der Ärger könnte sogar anwachsen, denn wie die Verwaltung jüngst den für Verkehr und Mobilität zuständigen Fachausschuss des Stadtrates wissen ließ, handelt es sich bei der Umwidmung von Stellplätzen um ein „laufendes Geschäft der Verwaltung“. Das heißt: Die Stadtteilpolitiker in den Bezirksvertretungen werden nicht gefragt, wo welche Pkw-Stellplätze zu Fahrrad-Stellplätzen werden sollen. Darüber entscheidet allein die Verwaltung. Die Politik vor Ort würde über das Ergebnis lediglich informiert, im Zweifel wohl sogar erst im Nachhinein.
Mehr Fahrradstellplätze an Schulen, Sporteinrichtungen und in Einkaufsstraßen
Langwierige Diskussionen möchte sich die Stadtverwaltung offensichtlich ersparen. „Wenn wir das Tempo, das wir uns bis 2030 vorgenommen haben, einhalten wollen, brauchen wir eine gewisse Freiheit“, sagt Rainer Wienke, Leiter des Stadtamtes für Straßen und Verkehr. Zudem solle der Ratsbeschluss im gesamten Stadtgebiet einheitlich umgesetzt werden, heißt es in der Vorlage der Verwaltung, die in den kommenden Monaten in den Bezirksvertretungen beraten wird.
Ob im ländlichen Heidhausen genauso viele Fahrrad-Stellplätze benötigt werden wie im dicht besiedelten Holsterhausen, sei dahingestellt. Laut Radentscheid sollen Fahrradstellplätze an Schulen und Sporteinrichtungen, in Einkaufsstraßen, aber auch in Wohnquartieren geschaffen werden.
ADFC-Sprecher Mirco Sehnke zeigt Verständnis für das Vorgehen der Verwaltung. „Jede einzelne Maßnahme des Radentscheids wird kontrovers diskutiert“, bedauert Sehnke und nennt beispielhaft den Konflikt um die Rüttenscheider Straße. Die dort im September 2020 ausgewiesene Fahrradstraße ist nach wie vor umstritten. Radfahrer sind wegen des Autoverkehrs nicht zufrieden, Einzelhändler warnen vor weiteren Einschränkungen und fürchten ums Geschäft.
Die Nutzung des öffentlichen Straßenraums ist zu einem Reizthema geworden
Der Radentscheid
23.693 Essenerinnen und Essener hatten den „Essener Radentscheid“ mit ihrer Unterschrift unterstützt. Der Rat der Stadt schloss sich dem Bürgerbegehren für den Ausbau des Radverkehrs daraufhin an. Vorgesehen ist unter anderem der Ausbau des Radwegenetzes, die Verkehrssicherheit an großen Straßenkreuzungen soll verbessert werden. Zusätzlich zu den 5000 Fahrradstellplätzen sollen laut Radentscheid 4000 Stellplätze in bewachten Parkhäusern oder Fahrradboxen eingerichtet werden sowie 2500 überdachte Stellplätze an Bahnhöfen und Haltestellen.
Überhaupt Rüttenscheid: Eingriffe in den öffentlichen Straßenraum sind dort für so manchen zu einem Reizthema geworden wie erst jüngst Reaktionen auf die Ausweisung von Carsharing-Plätzen gezeigt haben. Parkplätze, die zuvor von jedermann genutzt werden konnten, waren dafür weggefallen. Anwohner hatten sich darüber beschwert.
Ulrich Beul, verkehrspolitischer Sprecher der CDU-Ratsfraktion, zeigt sich im Gespräch mit der Redaktion verwundert darüber, dass die Bezirksvertretungen nicht mitentscheiden sollen. Bei der Frage, ob Pkw-Stellplätze vorübergehend für Außengastronomie genutzt werden sollen, sei dies noch der Fall gewesen. „Ich frage mich, wo der Unterschied liegt“, sagt Beul. Er plädiere dafür, die Politikerinnen und Politiker auch diesmal zu beteiligen, wenn es um Stellplätze für Fahrräder geht. „Weil die sich vor Ort am besten auskennen.“
Im September soll der Verkehrsausschuss darüber entscheiden, wie verfahren wird. Für Diskussionsstoff ist bereits gesorgt.