Essen. Michael Kerstgens hat Menschen 1986 in ihrer Freizeit fotografiert. Die Serie zeigt ein Lebensgefühl zwischen Atom-Angst und Konsum-Verlockungen.
In den Supermärkten herrscht Ansturm auf die letzten Pakete H-Milch, in den Apotheken gibt es keine Jod-Tabletten mehr und die Frage, was man noch gefahrlos essen kann, wird akut. Es ist der April 1986, die Atomkatastrophe von Tschernobyl hat Europa in Schrecken versetzt, als sich Michael Kerstgens die Mittelformat-Kamera schnappt. Er legt sie einen Sommer lang praktisch nicht mehr aus der Hand, auch als Sorgen und radioaktive Wolke schon wieder verflogen scheinen.
34 Jahre später sind die Vorräte in den Supermarktregalen wieder umkämpft, die Straßen leer gefegt. Aber nicht ein Atom-Unfall, sondern Corona sorgt diesmal für Ausnahmezustand. Und Michael Kerstgens erinnert sich im Pandemiejahr 2020 an einen alten Ordner voller Farb-Kontaktbögen, auf dem „Freizeit 1986“ steht. Und sieht noch einmal ganz neu hin.
Entstanden sind die Aufnahmen für ein Stipendium, das Kerstgens 1986 mit dem Auftrag erhält, sich fotografisch mit dem Thema Freizeit auseinandersetzen. Die losen Kontaktbögen runden sich nun zum zeithistorischen Dokument, zum Bilderbogen, in dem sich jeder, der die 1980er im Ruhrgebiet miterlebt hat, wiedererkennt. Kerstgens vielgestaltiger Blick „zurück in die Gegenwart“ ist mittlerweile als Buch erschienen (Hartmann-Books). 27 Farbabzüge der Serie hat nun auch das Museum Folkwang in Essen für seine Fotografische Sammlung angekauft.
„Freizeit 1986“, das ist ein Zustand zwischen einer vom Wettrüsten angefachten Zukunftsangst und ausgelebter Sorglosigkeit, zwischen Rekordarbeitslosenzahlen und der Entschlossenheit, sich auch mal etwas gönnen zu wollen. Shoppen ist in und Freizeit ein Zustand, der im strukturgewandelten Ruhrgebiet gern motorisiert betrieben wird.
Wer ein Motorrad hat, trifft sich auf Parkplätzen der Region, andere schippern mit der Weiße Flotte über den Baldeneysee, hängen mit der Clique im Grugabad ab oder rauschen mit dem Opel-Ascona ins Bowlingcenter nach Duisburg. Man füllt das erste bleifreie Benzin in den Tank, damals noch für rund eine D-Mark, und trägt Turnschuhe von Adidas.
„Es ist die Zeit, als „die Sport- und Unterhaltungsindustrie zur Freizeitindustrie verschmilzt“, sagt Kerstgens, der damals an der Gesamthochschule Essen studiert. Das mit 5000 Mark dotierte Foto-Stipendium vom „Verband Deutscher Wohnwagenhersteller“ kommt dem jungen Vater damals wie gerufen. Das Thema hat er ja. „Für unsere Freizeitgesellschaft ist es typisch, sich durch Zeichen und Symbole, die sich in Moden und Accessoires spiegel, darzustellen. Ich will diese Zeichen analysieren und in Kontext stellen mit den Menschen, die sie bewusst oder unbewusst benutzen“, schreibt er damals in sein Expose und legt den Farbfilm ein.
Fotografiert hat Kerstgens, der 1963 in Wales geboren wird, wo sein Vater damals für ein deutsches Bergbauunternehmen arbeitet, bis dahin hauptsächlich in Schwarz-weiß. Den Streik der Bergarbeiter in Wales beispielsweise, für den er sich 1984 beim Aktivisten-Ehepaar Marsha und Spud Marshall einquartiert und Aufnahmen mit jener Nähe machen kann, die einem Pressefotografen wohl unmöglich gewesen wären.
Einige Jahre später ist er beim Arbeitskampf in Rheinhausen dabei. Er dokumentiert er den Zerfall der UdSSR und den schwierigen Alltag in Moskau mit „Final Winter 1990/91“, zeigt die Einsamkeit eines Bergbauern in Südtirol. Und macht fernab von Montagsdemos und enthemmten Mauerpickern in einem Dorf in Thüringen Bilder von der Wende, die so nur wenige gesehen haben: „Zwischenzeiten“
Der erzählerische Ansatz, der Kerstgens Arbeiten auszeichnet, ist anders als die vornehmlich bildgestalterische Fotografie, die damals in Essen gelehrt wird. Während der subjektive Blick doch eher an Struktur und Typisierung interessiert ist, hat Kerstgens vor allem den Menschen im Blick. Wie er sein Rad die Treppe zum Stauwehr am Baldeneysee hochschiebt, die Muskulatur in glänzenden Leggins in Essens erstem Fitnessstudio stählt oder mit Cowboystiefeln ins Oberhausener Disco-Zirkuszelt stapft. „80 Prozent der Bilder sind in Essen entstanden“, erzählt Kerstgens. Der fotografische Blick reicht aber auch über die Ränder des Ruhrgebiets bis ins Sauerland.
Kerstgens inszeniert nicht, stellt weder bloß noch aus, er ist einfach dabei, wenn sich die Jugendlichen abends in der Rollschuhdisco treffen, sonntags auf dem Minigolfparcours mit Boss-T-Shirt und weißen Tennissocken ihre Zeit verbringen und im Freibad auf dem Walkman Depeche Mode-Cassetten einlegen. Selbst gerade Mitte 20, schafft es der Fotograf mit Gespür für den Moment und Sinn für den Zufall, Szenen von jener ungestelzten Beiläufigkeit festzuhalten, die vom exponierten Selfie-Posing der heutigen Zeit meilenweit entfernt sind.
Ihm geht es nicht um (Selbst)Darstellung, nicht um kunstvoll-distanzierte Blicke aus makellos ausgeleuchteten Gesichtsoberflächen oder um eine den Moment historisierende Fotografie. Kerstgens Bilder entstehen im Hier und Jetzt und haben am Ende doch eine ungeheuer lange Halbwertzeit. „Ich wollte und will erzählen. Mir geht es um das Partizipierende“, erklärt der mehrfach ausgezeichnete Fotograf.
Unterstützung für den Ankauf
Michael Kerstgens, Jahrgang 1960, wurde in South Wales geboren, ist in Mülheim zur Schule gegangen, in den 1980ern hat er an der Universität-Gesamthochschule Essen Fotografie studiert. Mittlerweile ist Kerstgens in Oberhausen-Sterkrade zu Hause.
Kerstgens wurde 2014 unter anderem mit dem „Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft“ der Stadt Mülheim ausgezeichnet, 2007 wurde er als Professor für Fotografie an den Fachbereich Gestaltung Mathildenhöhe der Hochschule Darmstadt berufen.
Das Buch „1986 – Zurück in die Gegenwart“ ist bei Hartmann-Books herausgekommen, 176 Seiten, 97 Abbildungen, 34 Euro. ISBN 978-3-96070-068-5
Der Ankauf von 27 Farbabzügen für die Fotografische Sammlung des Museum Folkwang konnte mit Unterstützung der Stiftung Presse-Haus NRZ realisiert werden.
Als Kind der 1960er ist er ja Teil dieser bundesrepublikanischen Gesellschaft, die in den 1980er zwar von den Bedrohung durch Atomkraft, den Gefahren des Aufrüstens und den Folgen des Waldsterbens weiß, gleichzeitig aber auch den Versprechen von Wachstum und den Verlockungen des Konsum relativ sorglos erliegt. Und so hat dieser manchmal amüsante, manchmal nostalgische „Blick zurück in die Gegenwart“ auch etwas Ernüchterndes. Für Kerstgens steht nämlich fest: „Ich begreife immer mehr, wie viel die Achtziger mit den globalen Problemen von heute zu tun haben. Wir haben einiges verbockt.“