Essen. 1600 Kilometer von Essen entfernt ist Krieg. Hier kümmert sich eine russische Ärztin um einen geflüchteten Medizinstudenten aus Kiew.
Eigentlich müsste Vladislav (18) jetzt in Kiew im Hörsaal der Bogomolets-Universität sitzen und die Vorlesungen seiner Medizinprofessoren hören. Weil die ukrainische Hauptstadt jedoch von der russischen Invasionsarmee belagert und beschossen wird, ist Vlad, wie er genannt wird, geflüchtet. Gut 1600 Kilometer in westlicher Richtung vom Kriegsschauplatz entfernt, in Essen-Bochold, ist der junge Ukraine-Flüchtling in besten Händen und in Sicherheit: nicht etwa bei Landsleuten, sondern ausgerechnet im Hause einer Russin. Was vor dem Krieg keinerlei Nachrichtenwert gehabt hätte, ist jetzt ein anrührendes politisches Statement: Seht, Russen und Ukrainer wollen Freunde sein und keine erbitterten Feinde.
Olga ist Allgemeinmedizinerin, ihre Praxis hat sie in Oberhausen
Olga ist Allgemeinmedizinerin, ihre Hausarztpraxis hat sie in Oberhausen. Die Beziehung zu Vlads Familie besteht schon seit längerem. „Vor ein paar Jahren war bereits sein Bruder Max bei uns, er wollte hier Deutsch lernen“, erinnert sich die Medizinerin. Eine ukrainische Freundin in Essen habe sich damals für Max eingesetzt und Olga hatte zufällig ein Zimmer frei.
Vor wenigen Tagen klingelt in ihrem Bocholder Reihenhaus erneut das Telefon. Dieses Mal bittet Max (23) um Hilfe für seinen geflüchteten Bruder Vlad – und Olga zögert keine Sekunde: „Sag ihm, er soll kommen, bei uns ist ein Zimmer ist frei.“
Vlad hat seiner Heimat gleich am ersten Tag dieses schrecklichen Krieges den Rücken gekehrt, am 24. Februar, als die ersten russischen Raketen und Bomben auf die Ukraine fallen. „Ich habe mich spontan entschieden.“ Seine Mutter holt ihn aus Kiew ab, nach einem Zwischenstopp in der Heimatstadt Ztytomyr, etwa 130 Kilometer westlich der Hauptstadt, geht es weiter an die ungarische Grenze. „Es herrschte Panik, die Straßen waren verstopft mit Flüchtlingen“, berichtet Vlad. In den Rucksack packt er nur das Allernötigste: ein paar Jeans und T-Shirts, die Zahnbürste und seine Papiere. Nicht nur Mutter und Bruder bleiben zurück, auch seine Freundin in Kiew, die ebenfalls Medizin studiert. „Ich wünsche mir, dass unsere Beziehung hält“, sagt er.
Vlad hat in Essen das beruhigende Gefühl, willkommen zu sein
Über Budapest, Wien und München geht Vlads Trip nach Essen, wo er am 5. März eintrifft. Er habe hier das Gefühl, willkommen zu sein, sagt er. Jugendliche Unbekümmertheit und Neugierde auf ein neues Land und seine Menschen dürften ihm den Neustart in der Fremde erleichtern.
Olga hat ihre Kindheit und Jugend in der untergegangenen Sowjetunion verbracht, in Jekaterinburg im Ural. Vor 26 Jahren übersiedelt sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Das Medizinstudium schließt sie erfolgreich in Essen ab. „Mein Onkel ist Ukrainer, meine Freundin auch, Ukrainer und Russen sind wie Brüder.“ Das gelte auch nach dem Zerfall der UdSSR.
Orte wie Charkow erinnern sie an das sinnlose Blutvergießen im Zweiten Weltkrieg, an den Überfall von Hitlers Wehrmacht. Wenn sie jetzt die russischen Panzer auf Charkow zurollen sieht, jagen ihr kalte Schauer über den Rücken. Olga macht kein Hehl daraus, dass sie Putins Krieg strikt ablehnt. Selbst ihre ältesten Freundschaften erweisen sich in diesen Kriegstagen als sehr verwundbar. „Ich habe mich mit meinen Freunden in Russland gestritten, deshalb haben wir vereinbart, vorerst nicht mehr über Politik zu reden.“
Sie zeigen ihm Villa Hügel und Zollverein, er kocht für die Gastfamilie Borschtsch
Das neue Familienmitglied hat sich schon nach wenigen Tagen eingelebt. Sie haben ihm schon die Villa Hügel, die Welterbezeche Zollverein und die Ruhr gezeigt. Er hat für seine Gastfamilie Borschtsch gekocht – für Russen wie für Ukrainer eine Leibspeise. Dass Vlad perfekt Russisch spricht, schafft noch mehr Nähe. „Der Junge ist uns ans Herz gewachsen“, sagt Olga.
Keine Familiennamen
Die Familiennamen der russischen Ärztin und des ukrainischen Flüchtlings sind dieser Zeitung bekannt.
Aus Rücksicht auf ihre Persönlichkeitsrechte haben wir absichtlich auf die Namensnennung verzichtet.
Zu seiner Familie in der Ukraine hat Vlad ständigen Kontakt, meistens via Facetime.
Und sein Studium? Dank Internet und Lockdown-Erfahrungen verfolgt Vlad die Anatomie-Vorlesungen an der Kiewer Medizin-Hochschule nun erst einmal online. Wie lange dies dauern wird, ist ungewiss. Aber in der Frage Sieg oder Niederlage hat er sich bereits festgelegt. „Die russische Armee wird Kiew niemals erobern.“