Essen. Eine Woche nach Start ihres Lagezentrums Ukraine zieht die Stadt Bilanz: Die Lage scheint im Griff, überwältigt ist man nur von der Hilfswelle.

Suchend streift ihr Blick über Bahnsteig 1 am Hauptbahnhof, einmal den ICE aus Berlin entlang: Niemand aus der Ukraine dabei. Woran Martina Pindzo das erkennt? Sie sieht es halt: „an den gestressten Gesichtern“ und fragenden Rundumblicken, an quengelnden Kindern und dem kleinen Gepäck. Insgesamt 13 waren es an diesem Freitagvormittag, aber der große Schub kommt nach 14 Uhr, dann wird der Stand der Caritas im Bahnhofsfoyer belagert sein. Die Flüchtlingswelle ist da.

Das zeigt schon die Bilanz der Stadt nach der ersten vollen Woche im Lagezentrum an der Steubenstraße: Seit vergangenen Samstag kamen danach mehr als 1400 Menschen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet nach Essen, viele mit der Bahn, die sie ja kostenfrei nutzen dürfen, manche mit dem Auto. Und nicht für alle ist in Essen Endstation. Wohin sie wollen, gehört deshalb zu den ersten Fragen, die im Raum stehen. Aus gutem Grund.

Ein Hauch von Anarchie, wo die Stadt sich ein geordnetes Verfahren gewünscht hätte

Denn die weitaus überwiegende Zahl der in Essen eingetroffenen Menschen, genau 990 von 1428, kommt bislang bei Freunden, Bekannten oder Verwandten unter. Nur für 262 Personen musste die Stadt eine Unterkunft bereitstellen, weitere 176 wurden in eine Landeseinrichtung in Dorsten gebracht. Hier landen vor allem Drittstaatler, die – anders als einheimische Ukrainer, denen der Vertriebenen-Status zugestanden wird – voraussichtlich ein Asylverfahren durchlaufen müssen.

Um die Welle nicht zu sehr zu stauen, atmet die Aufnahme in Essen wie überall einen Hauch von Anarchie: „Es ist leider nicht jenes geordnete Verfahren zustande gekommen, das wir uns alle gewünscht hätten“, sagt Stadt-Sprecherin Silke Lenz. Was bedeutet: Die Menschen werden nicht zuerst in einer Notunterkunft untergebracht, mit Registrierung und Gesundheits-Check am laufenden Band und der anschließenden Verteilung der Flüchtlinge je nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Gemeinden, dem sogenannten Königsteiner Schlüssel.

Wen die Caritas-Mitarbeiter übersehen, den erreichen vielleicht die Hinweisschilder auf den Bahnsteigen. Sie leiten die ukrainischen Flüchtlinge zum Infostand ins Bahnhofs-Foyer, wo von 9 bis 22 Uhr Ansprechpartner bereitstehen.
Wen die Caritas-Mitarbeiter übersehen, den erreichen vielleicht die Hinweisschilder auf den Bahnsteigen. Sie leiten die ukrainischen Flüchtlinge zum Infostand ins Bahnhofs-Foyer, wo von 9 bis 22 Uhr Ansprechpartner bereitstehen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

„Wir werden überrannt mit Anfragen“, heißt es bei der Essener Caritas

Stattdessen wird, so hat es das Bundesinnenministerium verfügt, ein gutes Stück improvisiert, was aus gleich drei Gründen in Essen bislang hervorragend klappt. Erstens, so betont Lenz, hat die Stadt aus der Flüchtlingswelle 2015 viel gelernt, die Verfahren und Strukturen sind erprobt und funktionieren. Zweitens erweisen sich Flüchtlinge aus der Ukraine trotz fraglos entsetzlicher Erlebnisse als unglaublich diszipliniert und geduldig, was auch Caritas-Helferin Martina Pindzo bestätigt: „Vor allem die Mütter sind stark. Das ist für sie alle nicht einfach, das merkt man, aber sie zeigen es nicht. Nicht vor den Kindern.“

Und drittens? Stoßen die Stadt wie auch die Hilfsorganisationen hierzulande auf eine schier unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft, „das ist der Hammer“, so Lenz. Auch Markus Siebert von der Caritas bestätigt, dass nicht etwa er die ehrenamtlichen Übersetzer für den Infostand im Hauptbahnhof hat suchen müssen, „die haben sich alle bei uns gemeldet. Wir werden überrannt mit Anfragen.“

Hier können Sie helfen

Hilfsangebote der Essener Bürgerinnen und Bürger sowie von hier ansässigen Vereinen, Verbänden und Unternehmen werden durch die Stadt koordiniert.

Diese bittet, sich per Mail unter ukrainehilfe@essen.de zu melden. Von Sachspenden bittet die Verwaltung derzeit abzusehen, bis genaue Bedarfe bekannt sind.

Wer Interesse hat, sich bei der Caritas ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren, kann sich ebenfalls per Mail an koordination.ehrenamt@cse.ruhr wenden.

Dass russische Ehrenamtliche auf ukrainische Flüchtlinge treffen, ist kein Problem

Es sind Leute wie Marina, deren Nachnamen wir aus Sicherheitsgründen hier nicht nennen, die aber stundenlang unschätzbare Hilfe leisten. Dass sie Russin ist, „dafür schäme ich mich nicht“, sagt sie selbstbewusst und bricht eine Lanze für all jene aus ihrem Land, die mit dem Krieg ganz und gar nicht einverstanden sind.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass auch die ukrainischen Flüchtlinge zwischen Kriegstreibern in der russischen Führung und dem Volk gut zu unterscheiden wissen: Kein einziges Mal sei sie auf Vorbehalte gestoßen, sagt Marina, im Gegenteil: Wenn sie die Menschen am Gleis auf Russisch anspricht, sind diese – trotz mancher Englisch-Kenntnisse vor allem der jüngeren Leute – froh, sich problemlos verständigen zu können.

Das Bürgeramt in Borbeck wird kurzerhand zum Ukraine-Stützpunkt umfunktioniert

Die Orientierung, die die Caritas-Helfer dann geben, sie gehört zu jenen Bausteinen, mit denen Essen die Lage im Griff behalten will: Im Innenhof des Sozialamts an der Steubenstraße wurden vier Zelte errichtet, was die Wartesituation deutlich entspannt. Der Arbeitsbeginn fürs Rote Kreuz und den Sicherheitsdienst wurde um eine Stunde vorgezogen, damit die Registrierung schneller vonstatten gehen kann, und das Bürgeramt in Borbeck kurzerhand zum Ukraine-Stützpunkt umfunktioniert.

Wird womöglich wieder gebraucht: das ehemalige Marienhospital in Altenessen. Hier könnten bis zu 120 ukrainische Flüchtlinge unterkommen.
Wird womöglich wieder gebraucht: das ehemalige Marienhospital in Altenessen. Hier könnten bis zu 120 ukrainische Flüchtlinge unterkommen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Denn mit ein, zwei ausgefüllten Formularen ist es für die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht getan: Es geht um Aufenthaltstitel, mit denen sie hier auch arbeiten können, aber eben auch um Masern- und Tuberkulose-Impfungen, um Schutz vor Corona und die nicht gering zu schätzende Frage, wie mit ankommenden Haustieren umzugehen ist: Die Ukraine gilt als Tollwut-Gebiet.

Rund 120 Flüchtlinge könnten im ehemaligen Marienhospital unterkommen

Daneben rollt die Spenden-Welle weiter: Von 1500 Müsliriegeln aus dem Büro des Oberbürgermeisters über Telefonkarten von Medion und Deutscher Telekom bis zu 200 Betten samt Zubehör von Möbelhändler Roller. Und auch wenn die Unterbringungs-Kapazitäten in den städtischen Heimen noch längst nicht ausgeschöpft sind, bereitet sich die Stadt für diesen Fall schon vor: Im Gespräch ist eine Reaktivierung zweier Etagen im ehemaligen Marienhospital in Altenessen. Rund 120 Plätze könnten dort in der dritten und vierten Etage sehr kurzfristig geschaffen werden.

Weitere Standorte sind in der Prüfung. Ob sie gebraucht werden, weiß keiner, Martina Pindzo und ihre Kollegen bei der Caritas werden es sehen: Aus Berlin und München kommen an jedem Werktag 33 Züge in Essen an.