Essen. Im Essener Sozialamt an der Steubenstraße endete am Wochenende für 126 Ukrainer die Flucht vor dem Krieg. Wie die Stadt den Neustart organisiert.
Was heißt „beängstigend“ auf Englisch? Hannas sorgfältig manikürte Finger huschen über die Handy-Tastatur, und Millisekunden später spuckt die Übersetzungs-App den Text aus. Er erzählt von ihrem Zuhause in Kiew, von vielen Freunden und ihrem Job als Friseurin, von einem beängstigenden Krieg und dem binnen weniger Tage gefassten Entschluss, die Kinder außer Landes zu bringen: Die Lebensmittel aus dem Kühlschrank und alles Geld hat sie bei ihrer Mutter in Krementschuk gelassen, nun steht sie an diesem Sonntagnachmittag vor der Tür des Sozialamtes an der Steubenstraße und sagt: „Ich muss mein Leben neu beginnen.“ Eine von vielen.
50 ukrainische Flüchtlinge kamen am Samstag, 76 waren es am Sonntag, und so wird das wohl weitergehen: Der zahlenmäßig überschaubare Einstieg beschert dem Sozialamt die Chance, die Abläufe für eine Flüchtlingswelle einzuspielen, von der keiner weiß, wie hoch sie nach Essen schwappt. Es gibt Maoam-Klümpchen für die Kleinen und Corona-Tests für alle, ein bisschen Melde-Bürokratie und den Versuch, die Menschen nach ihrer teils tagelangen Flucht aus dem Kriegsgebiet aufzufangen.
An sieben Tagen die Woche empfängt die Stadt jeweils sieben Stunden Flüchtlinge
Braucht jemand was zu essen? Einen Arzt oder Medikamente? Vielleicht eine Prepaid-Karte fürs Telefon, um sich nach den Lieben daheim zu erkundigen?
Zwölf Mitarbeiter, zwei Schichten
Die Hilfsbereitschaft für ukrainische Flüchtlinge, sie lässt sich auch beim Einsatz des Amtes für Soziales und Wohnen ablesen. Zu zwölft arbeiten sie hier in zwei Schichten, Freiwillige fürs Wochenende zu finden, war „kein Problem“ sagt Amtsleiter Stephan Bode.
Als große Hilfe erweisen sich Freunde, Verwandte und Bekannte, die ihre ukrainischen Landsleute beim Besuch im Amt begleiten.
In der Hochphase der Flüchtlingswelle 2015/16 musste in der Steubenstraße täglich 200 bis 400 Personen registriert werden. Ob diese Zahlen erreicht werden, ist völlig offen.
Als erste Anlaufstelle ist das Sozialamt sieben Tage die Woche für jeweils sieben Stunden geöffnet, danach noch drei Stunden telefonisch erreichbar: Das hat sich herumgesprochen in der ukrainischen Community, und so wird die Steubenstraße in Huttrop zu dem Ort, an dem die hässliche TV-Fratze dieses Krieges greifbar nah kommt: Hier stehen Großeltern mit einem Baby auf der Matte, weil die Eltern mit Waffen um ihre Heimat kämpfen, eine Frau erfährt bei der Erst-Registrierung vom Tod eines nahen Verwandten, und alle kommen sie nach ihrem Flucht-Marathon „hier zum ersten Mal zur Ruhe“, sagt Sozialamts-Leiter Stephan Bode. Für manchen ein anderes Wort für: Zusammenbruch.
Helfer überall: „Wir brauchten weit weniger Dolmetscher-Dienste, als wird dachten“
Wer kann, zeigt sich diszipliniert, schon der Kinder wegen. Der 42-jährigen Hanna Amélina und ihren Kindern Olga (16) und Maxim (6) sind nur ein paar Klamotten geblieben. Und die Erinnerungen an die Tage in Luftschutzkellern, die der kleine Maxim als Spiel missverstand: Er dachte, es ginge nur abwärts, weil’s regnet. Wie soll man auch den Kindern einen Krieg erklären, den selbst Erwachsene kaum begreifen?
Doch es gibt Lichtblicke. Für Hanna ist es ihre alte Freundin gleichen Namens aus Kindertagen, Hanna Romanenko, die mit ihrem Mann in Essen lebt und den dreien erst einmal Unterschlupf bietet. Kein Einzelfall, sondern die Regel, bestätigt die Stadt: Hier lebende ukrainische Landsleute kümmern sich rührend, „wir brauchten weit weniger Dolmetscher-Dienste, als wird dachten“, sagt Amtsleiter Bode.
„Wir wollen die Hilfsbereitschaft nicht ins Leere laufen lassen“, sagt der OB
Einer hat für die erste Nacht zwölf Leute bei sich untergebracht. Dass sowas kein Dauerzustand sein kann, ist allen klar. Von denen, die bislang ankamen, sind ein Drittel bei Freunden, Verwandten und Bekannten untergekommen, die anderen kamen erst einmal im Kloster Schuir unter, das Hunderten Asyl bietet. Parallel läuft die Suche nach Wohnungen, über 80 Angebote liegen bereits vor.
Mit der Verteilung ist die Stadt vorsichtig, denn unnötiges Hin und Her will man vermeiden, schließlich dürfen die Flüchtlinge wohl bald arbeiten. Andererseits: Da vor allem Frauen mit oft kleinen Kindern und ältere Menschen eintreffen, sind weniger Jobs das Problem als zusätzliche Sprachkurse und Kinderspielgruppen. Derweil hofft der OB, dass die Hilfsbereitschaft nicht abflaut: „Ich bin davon sehr beeindruckt“, sagt Thomas Kufen, „wir wollen das nicht ins Leere laufen lassen“.
Die Familie bringt sich in Essen in Sicherheit, der Bruder will kämpfen
Oben im Amt hat sich Igor Denysiuk eingefunden. Der einstige Abwehrrecke von Rot-Weiss Essen hat ukrainische Wurzeln und kommt gerade von einer 13-stündigen Hilfsfahrt zurück: Medikamente, aber auch Nachtsichtgeräte und schusssichere Westen hat er zur ukrainischen Grenze gebracht und muss sich um die Familie seines Bruders kümmern. Die hat sich auf den Weg nach Essen gemacht, der Bruder selbst dagegen will kämpfen.
Unten vor der Tür nimmt Hanna derweil ihre Freundin Hanna in den Arm und ringt sich ein Lächeln ab. Keine Ahnung, was jetzt kommt. Die Lage sei „beängstigend“. Ob und wann sie zurück nach Kiew kann, wer weiß das schon. „Danke für die großartige Hilfe“, sagt sie noch und seufzt: „Ich hatte ein schönes Leben.“