Essen. Wie die Deutsch-Russische Gesellschaft der wachsenden Kriegsrhetorik trotzt: Jugendaustausch in Zeiten der Ukraine-Krise.

Das deutsch-russische Verhältnis ist nach Einschätzung von politischen Beobachtern auf einem neuen Tiefpunkt angekommen. Der Westen und Russland stehen einander wieder feindselig gegenüber, ein militärischer Konflikt in der Ukraine scheint nicht ausgeschlossen. Auch der Gesellschaft für deutsch-russische Begegnung bereitet die aktuelle Entwicklung Bauchschmerzen. „Wir machen uns Sorgen“, sagt deren Vorsitzende, Barbara Lachhein, im Gespräch mit der Redaktion.

Seit nunmehr 30 Jahren setzt sich der eingetragene Verein erfolgreich für den Austausch zwischen Deutschen und Russen ein. Die Städtepartnerschaft zwischen Essen und Nischni Nowgorod geht auf diese Initiative zurück. Nicht jede Hoffnung, die man auf deutscher Seite Anfang der 1990er Jahre mit Glasnost, Perestroika und der politischen Öffnung der damaligen Sowjetunion verband, hat sich erfüllt. Dass heute aber von einem möglichen Krieg die Rede ist, das habe man sich vor 30 Jahren nicht vorstellen können, sagt Vorstandsmitglied Axel Graeser.

Auf ein freiwilliges Soziales Jahr nach Russland

Ungeachtet der wachsenden politischen Spannungen, kann die deutsch-russische Gesellschaft ihre Arbeit in Russland ungestört fortsetzen, berichtet Barabara Lachhein. Nach wie vor finden junge Russinnen und Russen auf Vermittlung des Vereins den Weg nach Deutschland, um hier zu studieren oder einer Familie als Au-pair zu helfen. Umgekehrt vermittelt die Gesellschaft junge Deutsche nach Nischni, die dort ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren.

Essens Partnerstadt Nischni Nowgorod. Im Hintergrund das Fußballstadion und die Newski-Kathedrale. Foto: DRG 
Essens Partnerstadt Nischni Nowgorod. Im Hintergrund das Fußballstadion und die Newski-Kathedrale. Foto: DRG  © DRG

Einschränkungen oder gar Repressalien von russischer Seite, wie sie Nicht-Regierungsorganisationen erdulden müssen, die als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden, habe die Deutsch-Russische Gesellschaft nicht erfahren. Im Gegenteil. Das Verhältnis sei durch gegenseitiges Vertrauen geprägt. Dieses Vertrauen basiere vor allem auf persönlichen Kontakten, die mit den Jahren entstanden seien. Es sind Kontakte zu Offiziellen der Stadtverwaltung, aber vor allem zu Lehrenden und Studierenden an Hochschulen und zu sozialen Einrichtungen.

Erfahrungen aus den 1990er Jahren wirken in Russland bis heute nach

Auf dieser Basis seien Gespräche über die politische Entwicklung möglich, ohne dass jeder auf seinem Standpunkt beharrt, berichtet Axel Graeser. Sein Eindruck: „Die eine Wahrheit gibt es nicht.“

Worin aber ist das tiefe Misstrauen Russlands gegenüber dem Westen begründet?

Barbara Lachhein ist Ehrenprofessorin an der linguistischen Universität in Nischni Nowgorod, drei Jahre hat sie in Russland gelebt. In vielen Gesprächen habe sie erfahren, welche tiefgreifenden Spuren die 1990er Jahre dort hinterlassen haben. Der radikale Umbau der Wirtschaft, der Zusammenbruch von Staatsbetrieben und soziale Verwerfungen stürzten viele Menschen in große Unsicherheit. „Viele, die zuvor einen sicheren Arbeitsplatz hatten, hatten plötzlich gar kein Geld mehr“, berichtet Lachhein. Diese Erfahrungen wirkten bis heute nach bis in jüngere Generationen.

Die Deutsch-Russische Gesellschaft konzentriert sich auf das Machbare

Das westliche Modell einer liberalen Wirtschaftsordnung ist bei vielen Russen diskreditiert. Erst Putin sorgte für soziale Stabilität, so ist seine Popularität in weiten Teilen der Bevölkerung zu erklären. Eine großer Mehrheit zieht soziale Sicherheit der politischen Freiheit vor. Beides schließt einander nicht aus. Nur hat man in Russland in den 90er Jahren andere Erfahrungen gemacht.

Vladlena Zverkova (l.) und Jegor Zharkov aus Nischni Nowgerod – im Bild mit Barbara Lachhein – absolvieren ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Jugendberufshilfe.
Vladlena Zverkova (l.) und Jegor Zharkov aus Nischni Nowgerod – im Bild mit Barbara Lachhein – absolvieren ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Jugendberufshilfe. © DRG

Dies alles erklärt nicht, warum an der Grenze zur Ukraine russische Panzer auffahren und auf beiden Seiten die Kriegsrhetorik zunimmt. „Das ist die große Politik. Wir konzentrieren uns auf das, was geht. Und es geht eine ganze Menge“, sagt Barbara Lachhein im Online-Interview. Vladlena Zverkova sei das beste Beispiel.

Sie ist eine von vier Studierenden aus Nischni Nowgorod, die auf Vermittlung der Deutsch-Russischen Gesellschaft derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr in Deutschland verbringen. Vladlena Zverkova arbeitet bei der Jugendberufshilfe, gibt Deutschunterricht und will ihre Erfahrungen an Schüler und Studenten in ihrer Heimat weitergeben, wie sie sagt.

Die Gesprächspartner

Barbara Lachhein ist seit 2015 Vorsitzende der Deutsch-Russischen Gesellschaft. Das Ehrenamt übernahm sie von Angelika Küpper, Gründungsmitglied des Vereins. Lachhein ist Ehrenprofessorin an der Linguistischen Universität in Nischni Nowgorod, Dozentin und Lehrbeauftragte an der Universität Duisburg-Essen. Kontakt: http://deutsch-russische-begegnung.de

Axel Graeser ist emeritierter Professor für Automatisierungstechnik an der Universität Bremen. Er betreut das Au-pair-Programm der Deutsch-Russischen Gesellschaft.

Vladlena Zverkova studiert in Nischni Nowgorod Deutsch und Englisch auf Lehramt. Im Rahmen des Europäischen Solidaritätscorps verbringt die 28-Jährige ein Freiwilliges Soziales Jahr in Essen.

Einander kennenlernen, einander verstehen lernen – dazu will die Deutsch-Russische Gesellschaft ihren Beitrag leisten. Den Anspruch, die russische Zivilgesellschaft zu stärken, verfolge man nicht. „Das wäre eine Nummer zu groß“, sagt Axel Graeser.

Mit politischen Kommentaren halten sich die beiden Vorstandsmitglieder bewusst zurück. Barbara Lachhein äußert sich als Vorsitzende betont diplomatisch. Daraus spricht wohl die Sorge, ein Wort zu viel könnte die erfolgreiche Arbeit in Russland, die der Verein weiter ausbauen möchte, womöglich gefährden. Die politische Großwetterlage bleibt nicht ohne Einfluss. Er befürchte, es könnte sehr wohl Einschränkungen geben, sollten die aktuellen Spannungen weiter zunehmen, sagt Graeser.

So lautet Devise: Machen, was möglich ist.