Essen. Filialisten sind in Essens Innenstadt auf dem Vormarsch, inhabergeführte Geschäfte haben einen schweren Stand. Zwei Alteingesessene berichten.

  • Einst verliehen namhafte Häuser wie Cramer & Meermann, Boecker und Roskothen der Essener Einkaufsstadt hohe Strahlkraft.
  • Heute dominieren Filialketten die Essener Innenstadt. Der so genannte Filialisierungsgrad beträgt inzwischen 80 Prozent.
  • Aber es gibt sie noch: die alteingesessenen Geschäft mit Tradition. Ihnen geht es um mehr als Umsatz und Gewinn, sie sind mit viel Herzblut bei der Sache.

Als die Einkaufsstadt Essen ihre größte Strahlkraft entfaltete, sorgten inhabergeführte Geschäfte für den meisten Glanz. Längst untergegangene Häuser wie Cramer & Meermann, Boecker, Roskothen und viele mehr haben das hervorragende Image der Essener Innenstadt einst besonders kräftig poliert. Ihre Zahl schwindet dramatisch, aber es gibt sie noch: Häuser mit Tradition und Geschichte. Geschäfte, die von Großvätern gegründet und heute von der Enkelgeneration weitergeführt werden. Zwei Beispiele zeigen, dass es den Alteingesessenen um mehr geht als Umsätze und Gewinne. Bei ihnen ist viel Emotionalität im Spiel, ein leiser Stolz, aber auch Hoffnung, und, selbst wenn es altmodisch klingen mag: Treue zu Essen.

Kaufmann in dritter Generation: „Wir halten die Stellung“

Kaufmann in dritter Generation: Gerd Brecklinghaus ist Inhaber des Lederwaren-Fachgeschäftes auf der Viehofer Straße 70 in Essen.
Kaufmann in dritter Generation: Gerd Brecklinghaus ist Inhaber des Lederwaren-Fachgeschäftes auf der Viehofer Straße 70 in Essen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos
Zwei Generationen: Eberhard Brecklinghaus sen. hat das Lederwaren-Fachgeschäft 1907 gegründet und an Sohn Eberhard jun. übergeben. Die untere Viehofer Straße war damals Anfang, nicht Ende der Innenstadt.
Zwei Generationen: Eberhard Brecklinghaus sen. hat das Lederwaren-Fachgeschäft 1907 gegründet und an Sohn Eberhard jun. übergeben. Die untere Viehofer Straße war damals Anfang, nicht Ende der Innenstadt. © Familienarchiv Brecklinghaus

„Wir halten die Stellung“, sagt Gerd Brecklinghaus (52), der in dritter Generation das 1907 gegründete Lederwaren-Fachgeschäft an der Viehofer Straße 70 führt. „Wir sind Dinosaurier“, ergänzt Babette Kösters, ebenfalls in dritter Generation Inhaberin des Fachgeschäftes für Porzellan, Wohnaccessoires und Küchenbedarf im I. Hagen 26.

Ihr Großvater gründet am Prinzipalmarkt „Kösters in Münster“, und den Vater zieht es 1972 in die boomende Einkaufsstadt, in der es damals noch sieben Porzellangeschäfte gibt. Heute nimmt Kösters mit seinem hochwertigen Sortiment eine Ausnahmestellung ein, ist weit über die Grenzen Essens hinaus der wohl einzige „Edel-Porzelliner“ im Ruhrgebiet. Babette Kösters, aufgewachsen in Münster, lebt seit 30 Jahren in Essen und macht, der Stadt und ihren Menschen ein Kompliment. „Ich fühle mich als Essenerin, die Menschen hier sind offen, man wird schnell geduzt.“

Essener Innenstadt im Wandel

Die Mitte Essens verändert sich: Im historischen Stadtkern finden sich Kultur, Gastronomie und Handel. Doch die goldenen Zeiten der Einkaufsstadt scheinen vorüber. Woran das liegt und welche Perspektiven es gibt, beleuchten wir in dieser Serie.

„Ich bin mit Leib und Seele Essener“. Dieser Satz geht auch Gerd Brecklinghaus mühelos über die Lippen. „Ich bin hier aufgewachsen, war auf der Münsterschule und dem Burggymnasium und habe in der Viehofer Straße mit meinen Freunden gespielt.“ Unten das große Geschäft, hoch oben in der vierten Etage die riesige Wohnung der Eltern und darüber der Dachgarten. „Wir hatten da oben Gemüse und sogar acht Hühner.“

Gerd Brecklinghaus bekennt: „Ich bin mit Leib und Seele Essener“

Früh lernt Brecklinghaus, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Seine Lehre als Einzelhandelskaufmann absolviert er bei Karstadt in der Hamburger Mönckebergstraße und als Internationaler Diplom-Betriebswirt sammelt er berufliche Erfahrungen in Italien, Südafrika, Kalifornien und London. 1997 steigt er ins väterliche Geschäft ein.

Dass es häufig Reibereien mit dem Senior gibt, verschweigt er nicht. Aber Gerd Brecklinghaus expandiert: Zusätzlich zum Hauptgeschäft und den Filialen Rhein-Ruhr-Zentrum und Kö-Galerie eröffnet er eine Dependance in Rüttenscheid und zwei Geschäfte am Düsseldorfer Flughafen. „Sie sind kleiner, aber umsatz- und renditestark.“ Die Parallele zu Kösters: Von einst sieben inhabergeführten Lederwaren-Fachgeschäften ist auch Brecklinghaus heute der Letzte.

Das Geschäft „Kösters in Essen“ befindet sich direkt gegenüber vom Grillo-Theater. Der Seniorchef setzte in den goldenen Jahren auf hochwertiges Porzellan aus Manufakturen. Pfannen oder gar Fußmatten zu verkaufen, sei für ihn undenkbar gewesen.
Das Geschäft „Kösters in Essen“ befindet sich direkt gegenüber vom Grillo-Theater. Der Seniorchef setzte in den goldenen Jahren auf hochwertiges Porzellan aus Manufakturen. Pfannen oder gar Fußmatten zu verkaufen, sei für ihn undenkbar gewesen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Das Interview mit Babette Kösters findet in der gemütlichen kleinen Teeküche statt. Das Mineralwasser serviert sie im eleganten und innen vergoldeten Champagnerglas der feinen Marke Fürstenberg. „Ein Renner im Weihnachtsgeschäft“, sagt die Kauffrau. Immer wieder dreht sich das Gespräch um die goldenen Jahre. Dass sie im Souterrain in der gut sortierten Küchenabteilung heute Pfannen verkauft und sogar mit Fußmatten „Superumsätze“ mache, sei für den Vater völlig undenkbar gewesen. Dieser habe sich ausschließlich auf das Edle konzentriert – auf Manufakturen und handgemaltes Geschirr, auf noble Hersteller wie Meißen und KPM, auf Luxuskristall und Silberbesteck natürlich auch. Und die geneigte Kundschaft nimmt dafür weite Anfahrten gerne in Kauf. Die kommt sogar vom Niederrhein und aus dem Sauerland.

Darauf ist Babette Kösters stolz: „60 Prozent sind Stammkunden“

Dreimal zieht Kösters in der Essener Innenstadt um, zuletzt 2002, als sich die Verkaufsfläche auf 650 Quadratmeter verdoppelt. Im „Haus am Theater“ passen auch die Nachbarn zum Konzept. Wer Kurland-Geschirr bei Kösters kauft, kleidet sich auch gerne nebenan bei Bogner ein. Stolz weist Babette Kösters auf den enorm hohen Anteil von Stammkunden hin: „60 Prozent“.

Wenn sie Kunden Corona-Bändchen ums Handgelenk legen wollen, heiße es oft: „Nein danke, wir kommen nur zu Ihnen.“ Doch selbst den Treuesten bleibt nicht verborgen, dass die Einkaufsstadt Charme und Magnetkraft einbüßt. Immer häufiger hören sie bei Kösters auch solche Sätze: „Mein Gott, was ist bloß aus Essen geworden.“ Wenn Kunden nach einem eleganten Kaffeehaus in der Nähe fragen, zucken die Kösters-Verkäufer die Achseln.

Zurück zu Brecklinghaus in der Viehofer. Kunden seines Rü-Geschäftes irritiere, dass er hartnäckig am 114 Jahre alten Standort am Pferdemarkt festhalte. „Viele wissen gar nicht, dass wir hier sind“, sagt der Kaufmann. Auch hier ein nostalgischer Blick in die goldenen Jahre: Brecklinghaus blättert in den vielen Fotoalben der Familie. 1957 beim Sonderverkauf zum Fünfzigsten drängt sich eine Menschentraube vorm Laden.

„Ursprünglich war hier der Anfang der Innenstadt und oben am Hauptbahnhof das Ende, heute ist es umgekehrt“, sagt Brecklinghaus. Und fügt hinzu: „Mein Vater hat immer gekämpft, aber wir sind in der nördlichen Innenstadt 30 Jahre lang von der Stadtpolitik vernachlässigt worden.“ Allein das Einkaufszentrum Limbecker Platz habe gute Lagen zerstört und vitale Kundenströme austrocknen lassen.

Ungeduldig trotz positiver Signale: „Das müsste viel, viel schneller gehen“

Ein nostalgisches Bild aus der Zeit des Wirtschaftswunders: Als Brecklinghaus 1957 das 50-jährige Bestehen feiert, reißt sich eine     Menschentraube auf der Viehofer Straße um die Jubiläumsangebote.
Ein nostalgisches Bild aus der Zeit des Wirtschaftswunders: Als Brecklinghaus 1957 das 50-jährige Bestehen feiert, reißt sich eine Menschentraube auf der Viehofer Straße um die Jubiläumsangebote. © Familienarchiv Brecklinghaus

Der junge Brecklinghaus ist ein Kämpfer wie der alte. Einer, für den das Glas nicht halbleer, sondern halbvoll ist. Immer wieder weist er auf die in letzter Zeit zunehmend zuversichtliche Grundströmung in der Nord-City hin: auf die Rückkehr des Allbau, auf das Wirken des Oberbürgermeisters, auf den erfolgreichen Kampf gegen die Clankriminalität, auf die Chancen des Kreativquartiers, auf das große Thema Wohnen in der Innenstadt. Aber er sagt im gleichen Atemzug: „Das müsste alles viel, viel schneller gehen.“

Filialen dominieren die City

Die inhabergeführten Geschäfte in der Essener Innenstadt sind seit Jahrzehnten auf dem Rückzug. Dagegen nimmt der so genannte Filialisierungsgrad zu. Die Folge davon ist, dass Innenstädte damit kaum noch Alleinstellungsmerkmale haben sondern austauschbar werden.

Nach einem Bericht des Maklerunternehmens BNP Paribas Real Estate gehörten im Jahr 2019 86 Prozent der Läden auf der Kettwiger Straße einer Filial-Kette an. Nicht anders sah es zum damaligen Zeitpunkt auf der Limbecker Straße aus. Dort waren 85 Prozent der Geschäfte Filialen.

Bei Kösters sind sie davon überzeugt, dass der klassische Fachhandel auch die aktuellen Turbulenzen – von der gnadenlosen Online-Konkurrenz über hohe Mieten bis zur Pandemie – überleben werde, wenn auch kleiner gesetzt.

Über 80 Prozent der Geschäfte in der Essener Innenstadt sind inzwischen Filialisten, Textil-Discounter wie Primark machen selbst bei Ramsch-Klamotten zu Dumping-Preisen noch Gewinn. „Wenn wir nur über den Preis verkaufen müssten, könnten wir nicht mithalten“, hält Kösters-Geschäftsführer Detlef Meier dagegen. Beim „Black Friday“ machten sie nicht mit, weil Rabatte von 30 Prozent und mehr ruinös wären. Kösters setzt deshalb auf andere Stärken. Das Gekaufte werde schön verpackt, die Tüte gebe es kostenlos dazu. Außerdem werde die Kundschaft im ganzen Ruhrgebiet im Umkreis von 100 Kilometern beliefert. „Nicht nur bis zur Bordsteinkante, wir bringen den Gasgrill in die dritte Etage und bauen ihn selbstverständlich auf“, sagt Meier.

Service statt Rabatt-Fieber: Kösters beliefert Kundschaft im ganzen Ruhrgebiet

Gerd Brecklinghaus denkt nicht im Traum daran, wegzuziehen. Allein schon wegen der hohen Mieten etwa auf der Kettwiger verböten sich solche Gedankenspiele. Wenn er oben auf der Dachterrasse den Blick über die Innenstadt kreisen lässt, von St. Gertrud bis zum Rathaus, kommt es wieder hoch: das Bekenntnis zu Tradition, Heimat und Geschäft. „Ich hänge mit Herzblut an diesem Haus.“