Essen. Im Essener Norden leben viele Übergewichtige. Das sei auch ein soziales Problem, sagt das Philippusstift. Es bietet eine Adipositas-Sprechstunde.
Übergewicht lässt sich geografisch verorten: Im wohlhabenden Münster sind die Menschen schlanker als im Ruhrgebiet, im Essener Norden sind sie dicker als im Süden der Stadt. Und viele werden ihre Extra-Kilos aus eigener Kraft nicht mehr los. Das Philippusstift in Borbeck will Betroffenen helfen und richtet nun eine Adipositas-Sprechstunde ein.
Der Bedarf sei groß, sagt Dr. Franz-Josef Schumacher, Chefarzt der Klinik für Viszeralchirurgie, Koloproktologie und minimalinvasive Chirurgie am Philippusstift. „In unserem Umfeld gibt es viele adipöse Menschen, die sich zu wenig bewegen und zu viel Cola, Pommes, Burger und Alkohol zu sich nehmen.“ Schumacher formuliert das nicht als Kritik, sondern als Feststellung. Oft fehle es den Betroffenen nicht nur an Geld für frische Kost, sondern auch an Bewusstsein: „Wer reflektiert ist, isst eher Obst und Gemüse.“ Übergewicht als soziales Problem.
Kinder schleppen das Übergewicht ins Erwachsenenalter
Um das zu bekämpfen, müsse man schon in Kitas und Schulen anfangen, für gesunde Ernährung zu werben. Gebe es doch eine erschreckende Zunahme stark übergewichtiger Kinder und Jugendlicher, die diese Erblast ins Erwachsenenalter schleppen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Adipositas-Kandidaten habe in der Kindheit eine Form der Misshandlung erlebt. Mögen die Ursachen sich unterscheiden, am Ende entwickeln sich viele zu „Gewohnheitsessern“ mit einem schon krankhaften Übergewicht.
Als übergewichtig gilt man ab einem BMI von 25, von Adipositas oder Fettsucht spricht man ab einem BMI von 30. Es gebe verschiedene Schweregrade der Adipositas; er habe auch Patienten mit Werten von 50, 60 – oder mehr. Ihnen drohen Bluthochdruck, Diabetes, Atemaussetzer, Gelenkverschleiß und ein erhöhtes Risiko für Herzversagen und Schlaganfall. „Das alles verkürzt ihre Lebenserwartung um Jahre.“
237 Kilo bei 1,83 Meter Körpergröße
Oft seien so stark übergewichtige Menschen gar nicht mehr in der Lage, Sport zu treiben, und kämpften sich durch einen frustrierenden Wechsel von Diäten und Jojo-Effekt. Selbst Schwerpunktpraxen bemühten sich hier oft erfolglos um eine deutliche Abnahme. „Wir hatten einen Mann, der bei 1,83 Meter Körpergröße 237 Kilo wog“, erzählt Schumacher. Ihm sei am Philippusstift der Magen verkleinert worden. In einer Familie habe man inzwischen den Vater und drei Kinder operiert.
Ab einem BMI von etwa 35 könne man – im Einklang mit dem Leitfaden des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen – die operative Gewichtsreduzierung anbieten. Zunächst müssen die Betroffenen ihre Ernährung verändern, eine Bewegungs- und Verhaltenstherapie machen und in einem halben Jahr schon zehn Prozent ihres Gewichts verlieren.
Sie werden medizinisch durchgecheckt, geprüft, ob die OP für sie sinnvoll ist. Selbst ein psychiatrisches Gutachten wird gemacht, bevor über den Eingriff entschieden wird. Schumacher und sein Team helfen den Patienten, den Antrag zu stellen und ggf. einen Widerspruch zu formulieren, wenn die Krankenkasse nicht zahlen will, obwohl alle Bedingungen erfüllt sind. „Schließlich haben die Kassen die morbide Adipositas als Krankheit anerkannt.“
Schon das sei ein wichtiges Signal für die Betroffenen, sagt Marion Schröder, die Schumachers Sekretariat leitet und die Adipositas-Patienten auf ihrem langen Weg zur OP – und danach – begleitet. „Die passen nicht in die Badewanne, können nicht Auto fahren, werden in der Bahn oder im Flugzeug angestarrt. Sie meiden auf einem Fest das Buffet und essen lieber allein.“ Sie erleben den Alltag als Kette von Demütigungen und scheitern immer wieder beim Abnehmen.
Ein Drei-Gänge-Menü ist nach der OP nicht mehr möglich
„Für einige ist die Operation der einzige Weg“, sagt Schumacher und schränkt ein: „Wir kriegen nicht jeden dahin.“ Sind alle Hürden genommen, gebe es verschiedene Eingriffe, wobei er den Schlauchmagen gegenüber dem Magen-Bypass bevorzuge, weil das Risiko geringer und die Nachsorge einfacher sei. Die OP wirke umgehend: „Wer eine Magenverkleinerung hat, wird sofort bestraft, wenn er zu viel isst. Das Drei-Gänge-Menü ist da nicht mehr drin – das sagen wir auch vor der OP. Die Menschen haben aber auch vorher nicht mehr mit Genuss gegessen“, sagt Schumacher.
Bei beiden Methoden nehme man mittelfristig stark ab. Aber: „Die Patienten werden nie in Kleidergröße 34 passen“, betont Schumachers Kollegin Petra Hallenga, Fachärztin für Viszeralchirurgie. Auch so führt der deutliche Gewichtsverlust bei Menschen, die mal 140 oder 160 Kilo gewogen haben, zu Folge-OPs etwa, um überschüssige Hautlappen zu entfernen.
Die Patienten werden erst engmaschig betreut, kommen später einmal im Jahr zur Nachsorge, auch um sie zu ermuntern, ihren neuen Lebensstil beizubehalten – und nicht etwa Nutella zu verflüssigen, um ihren Mini-Magen auszutricksen. Marion Schröder telefoniert oft mit ihnen, erlebt, dass sie sich gut aufgehoben fühlen: „Viele können das Insulin absetzen, können sich wieder bewegen – die Menschen sind hinterher so glücklich!“
Sprechstunde startet am 13. Januar
Am Donnerstag, 13. Januar, um 16 Uhr startet die Adipositas-Sprechstunde des Philippusstifts in Borbeck per Videochat. Sie soll jeden zweiten Donnerstag im Monat stattfinden und wendet sich an stark Übergewichtige, denen aus eigener Kraft eine Gewichtsreduktion nicht gelingt.
Beim ersten Treffen stellt Dr. Franz-Josef Schumacher vor, worum es in der Sprechstunde geht. Perspektivisch kann aus dem Angebot eine Selbsthilfegruppe hervorgehen. Link zur Sprechstunde:https://t1p.de/0u2z