Essen. Verschlampte Krebsfrüherkennungen und eine Ärzteversorgung, die auf dem Papier besser scheint als ihr Ruf – was der AOK-Gesundheitsreport verrät.
Na, wie isset? Es ist dies die Frage aller Fragen nach dem Wohlbefinden des Gegenübers – und hier mit Essen mal einer ganzen Stadt. Die Antworten, oft verblüffend, gelegentlich erschreckend, finden sich im 148 Seiten starken „Gesundheits-Report“, den die AOK Rheinland-Hamburg – mit mehr als 155.000 Kunden Marktführer der hiesigen Krankenkassen – aus einem wahren Wust an Gesundheitsdaten erstellt hat. Danach sind wir in Essen, man ahnt es fast, zu dick, oft depressiv und schmerzgeplagt.
Mit Statistiken und Vergleichstabellen fühlt die Kasse dem gesamten Rheinland den Puls, spiegelt in Ranglisten von A wie Asthma bis Z wie Zappelphilipp-Syndrom, wie es um die Gesundheit der Essenerinnen und Essener bestellt ist.
Hier ein paar Schlaglichter:
Lebenserwartung
Wie lange würden Neugeborene eines bestimmten Jahrgangs im Schnitt leben, wenn die aktuell beobachteten Sterblichkeitsraten konstant bleiben? Essener Kinder landen da auf dem drittletzten Platz im Rheinland – bei beiden Geschlechtern. Mädchen würden 81,9 Jahre (NRW: 82,8), Jungs 77,0 (NRW: 78,2).
Sterbefälle
Gemessen an je 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern registriert der Revier-Nachbar Mülheim mit 13,4 Sterbefällen die höchste Sterblichkeit im Rheinland, Bonn mit nur 9,1 die niedrigste. Und Essen? Landet bei 12,0 – etwas schlechter als der NRW-Schnitt von 11,5.
Kein Vergleich mit dem östlichen Ruhrgebiet möglich
Die AOK Rheinland-Hamburg zählt in Essen nach eigenen Angaben rund 155.500 Kunden, wozu die Versicherten und ihre mitversicherten Angehörige zählen. Sie ist damit Marktführer unter den örtlichen Krankenkassen mit einem Anteil von 26 Prozent.Die Zahlen des Gesundheits-Reports für 2021 erlauben einen Vergleich mit Kommunen und Kreisen im gesamten Rheinland sowie mit Hamburg, für das östliche Ruhrgebiet gibt es allerdings keine vergleichbare Veröffentlichung – und damit auch keinen Vergleich mit Bochum oder Dortmund. Die Corona-Pandemie hat den Gesundheitsmarkt ziemlich durcheinandergewirbelt. In den Auswertungen des AOK-Reports spiegelt sich dies allerdings nicht unmittelbar wieder, weil die Auswertung größtenteils Zahlen des Jahres 2019 berücksichtigt.
Check-up
Gesundheitliche Risiken frühzeitig zu erkennen, das ist der Sinn von Check-up-Untersuchungen zwischen 35 und 64 Jahren, die in Essen durchschnittlich in Anspruch genommen wurden: Frauen sind mit einem Anteil von 66,1 Prozent dabei, Männer nur zu 56,7 Prozent. Bemerkenswert: Leverkusen, Düsseldorf und Köln liegen bei beiden Geschlechtern bis zu neun Prozentpunkte höher.
Adipositas
Ein paar Kilo zu viel auf die Waage zu bringen, ist das eine. Heikel wird es für den Körper, wenn der Körperfettanteil allzu hoch steigt. Bei einem Body-Mass-Index von mehr als 30 (Kilo Gewicht geteilt durch Körpergröße mal Körpergröße in Metern) gilt jemand als adipös, darunter fallen 14,3 Prozent der AOK-Versicherten. Essen ist damit etwas fettleibiger als der Durchschnitt (13,6 %). Das gilt übrigens auch für Kinder und Jugendliche von 3 bis 17 Jahren, für die allerdings andere Richtgrößen zählen: Essen liegt mit einem Anteil von 7,5 Prozent fettleibiger Kinder deutlich über Duisburg oder Oberhausen (beide knapp über 6 Prozent) oder gar Mülheim (5,1 %).
Darmspiegelung-Früherkennung
Nicht viel besser sieht es bei der Krebsfrüherkennung durch eine große Darmspiegelung (Koloskopie) aus: Nur 8,5 Prozent derer, die darauf einen Anspruch haben, machten binnen fünf Jahren davon Gebrauch, im Rheinland lag der Schnitt bei 14,0, im Kreis Aachen als Spitzenreiter sogar bei 20 Prozent.
Krebsfrüherkennung
Deutlich schlechter als im Durchschnitt fällt die Beteiligung der Essenerinnen und Essener bei der Krebsfrüherkennung aus: Sowohl Frauen (41,9 %) als auch Männer (14,1 %) landeten auf dem viertletzten Platz.
Chronische Schmerzen
Das tut weh: Bei chronischen Schmerzen liegen die Essener AOK-Versicherten spürbar überm Schnitt: 29,4 Prozent leiden darunter, in Hamburg etwa sind es zum Vergleich „nur“ 24,8 Prozent. Viele haben es dabei „im Kreuz“ (16,6 %).
Verschriebene Opioide
Wohin „Opium fürs Volk“ führen kann, zeigt ein Blick in die USA, wo die allzu laxe Verschreibung von Opioiden die Zahl der Drogenabhängigen und in der Folge der Todesopfer nach oben trieb. In Essen haben 13,2 Prozent der Versicherten mit chronischen muskuloskelettalen bzw. neuropathischen Schmerzen mindestens einmal ein Opioid verschrieben bekommen. Immerhin jeder Zehnte erhielt die Medikamente dabei auch über einen längeren Zeitraum.
Kopfschmerz und Migräne
In Essen begeben sich 5,6 Prozent der Versicherten wegen Kopfschmerzen in ärztliche Behandlung, 13,4 Prozent nehmen Medikamente gegen akute Migräne, 11,3 Prozent nehmen diese Mittel sogar vorbeugend – nur die Versicherten in Solingen greifen noch öfter zur Tablette.
Grüner Star
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Auf der Suche nach Lichtblicken in der AOK-Statistik landet man beim unerkannten Glaukom, das schlimmstenfalls zur Erblindung führt. In Essen liegt der Anteil an allen Versicherten, die zur Erstdiagnose bereits unter Sehstörungen litten, bei 11,6 Prozent. Das ist zwar immer noch fast drei Mal so hoch wie in Aachen, aber nur ein Drittel des Wertes des Kreis Euskirchen. Der Durchschnitt liegt bei 18,2 Prozent.
Diabetes mellitus Typ 2
Ein Mix aus erblicher Veranlagung, ungesunder Ernährung und Bewegungsmangel sorgt für einen erhöhten Blutzuckerspiegel – an diesem „Diabetes mellitus Typ 2“ leiden geschätzt knapp zehn Prozent der AOK-Versicherten, im Rheinland liegt der Durchschnitt bei 8,2 %.
Asthma und COPD
Spürbar über dem Schnitt liegt in Essen nach Schätzungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK die Zahl der Asthma-Kranken (4,9 %) und der Personen mit COPD (10,2 %), einer chronisch fortschreitenden Erkrankung der Lunge.
Untersuchung bei Kindern
In nicht weniger als 13 Untersuchungen lässt sich die Entwicklung von Kindern bis zur Volljährigkeit beobachten. Bei der U7a, der Untersuchung kurz vor dem dritten Geburtstag (34. bis 36. Lebensmonat) liegt Essen mit einer Teilnehmer-Quote von 90,7 Prozent auf dem vorletzten Platz: Spitzenreiter ist, zum Vergleich, der Kreis Mettmann mit 96,8 Prozent. Der führt auch bei der Jugendlichen-Untersuchung J1 (12 bis 14 Jahre) die Liste an: mit 73,9 Prozent, während Essen hier bei nur 46,1 Prozent liegt.
Kindergebiss ohne Füllungen
Besser als der Schnitt stehen die Sechsjährigen in Essen da, wenn es um die Frage geht, ob ihnen Karies oder Füllungen erspart geblieben sind: 63,9 Prozent können mit Ja antworten, in Mülheim sind es 68,2 Prozent, in Duisburg nur 57,6. Luft nach oben ist dennoch: Die Weltgesundheitsorganisation hat für Deutschland die Zielmarke 80 Prozent ausgegeben.
Kinderkrankengeld
Wenn Eltern nicht zur Arbeit gehen können, weil sie ihr krankes Kind pflegen müssen, zahlt die Kasse für einen beschränkten Zeitraum einen Großteil des Nettogehalts. In Essen wurden durch die AOK je 1000 Versicherten-Jahre insgesamt 110 Tage Kinderkrankengeld ausgezahlt, das ist nahezu exakt der Durchschnitt im Rheinland. Zum Vergleich: Duisburg kam auf nur 82 Tage, Solingen auf 145.
Allergien bei Kindern
In Essen leiden deutlich mehr Kinder und Jugendliche unter Allergien als im größten Teil des Rheinlands: Mit 19,0 Prozent rangiert die Stadt auf Platz 4, Oberhausen oder Mülheim kommen hingegen nur auf 15,4 bzw. 14,0 Prozent.
ADHS
Wenn Kinder kaum eine Minute still sitzen und sich schlecht konzentrieren oder lernen können, sprach man früher gern vom „Zappelphilipp-Syndrom“. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz: ADHS, eine psychische Krankheit, an der laut Statistik 3,7 Prozent der Kinder im Alter zwischen 3 und 17 Jahren leiden. Ein Durchschnittswert, der etwa in Duisburg (2,3 %) deutlich unterschritten wird, im Kreis Aachen (7,5 %) dagegen doppelt so hoch ausfällt.
Sprachtherapie
Ob lispeln und vertauschte Buchstaben oder eine deutliche Verzögerung im Sprachgebrauch: Eine ärztlich verordnete logopädische Therapie kann angeraten sein, wenn Kinder sprachlich hinterherhinken. In Essen hat knapp jeder vierte (24,3 %) Neunjährige des Jahres 2019 seit dem dritten Geburtstag mindestens eine Sprachtherapie erhalten – so wenig wie in keiner anderen Stadt im Rheinland, ausgenommen Wuppertal. Zum Vergleich: Der Durchschnitt liegt bei gut 30 Prozent, in Bonn und Aachen waren es gar 38,7 bzw. 36,7 Prozent.
Polypharmazie bei Älteren
Vor allem ältere Menschen nehmen dauerhaft und gleichzeitig verschiedene Medikamente mit unterschiedlichen Wirkstoffen ein. Wechselwirkungen können dabei zu Problemen führen. In Essen ist der Anteil der Versicherten ab 65, die zu solchen „Pillen-Cocktails“ greifen, mit 44,6 Prozent höher als im Durchschnitt. Besonders niedrig ist er in Hamburg (39,1 %).
Antidepressiva
Deutlich über dem Schnitt liegt Essen dagegen bei den gegen Depressionen verschriebenen Psychopharmaka: Hier kommen auf jeweils 100.000 Versicherte 7074 Patienten mit mindestens einer Verordnung, im Kreis Aachen sind es gar 9591 Verschreibungen, in Düsseldorf dagegen nur 6224.
Schlafmittel
Im westlichen Ruhrgebiet finden die Menschen offenbar schneller in den Schlaf als in nahezu allen übrigen Gegenden des Rheinlands. Dies zeigt eine Statistik über Psychopharmaka, die als Schlafmittel verordnet werden: In Mülheim gab es danach pro 100.000 Versicherte nur 1036 AOK-Kunden mit mindestens einer Verordnung, auch Duisburg (1077 Fälle), Oberhausen (1176) und Essen (1274) kommen mit wenig aus. In Düsseldorf sind es dagegen 1625, in Bonn 1845 und in der Domstadt Köln gar alarmierende 2394.
Apotheken
Mit der Apotheker-Genossenschaft Noweda weiß Essen einen der größten deutschen Pharmahändler in seinen Stadtgrenzen, dem immerhin 9200 Apothekerinnen und Apotheker angeschlossen sind. Bei der Zahl der Apotheken liegt die Stadt jedoch unterm Durchschnitt: Je 100.000 Einwohner gibt es hier 21,1 öffentliche Apotheken, in Düsseldorf oder Bonn sind es mit 27,7 bzw. 29,5 deutlich mehr.
Hausärztliche Versorgung
Wie sieht eine angemessene Versorgung mit Hausärzten aus? Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein sieht das Soll bei einem Verhältnis von 1671 Einwohnerinnen und Einwohnern pro Hausarzt als erfüllt an. Der Versorgungsgrad beschreibt dann, ob die Versorgung genau auf diesem Niveau, darüber oder darunter liegt. In Essen ist die Quote mit 102,3 Prozent knapp übererfüllt. Besonders hoch ist die Ärztedichte in Bad Honnef (137,7 %), besonders niedrig in Kleve (80,7 %) oder Wermelskirchen (76,2 %).
Fachärztliche Versorgung
Auch bei den Fachärzten liegt Essen deutlich über der angesetzten Soll-Stärke, wie ein Blick auf insgesamt neun Disziplinen zeigt: Am höchsten liegt danach der Versorgungsgrad bei den Hautärzten (168 %), gefolgt von Chirurgie und Orthopädie (162 %), Gynäkologie (146 %) sowie Hals-Nasen-Ohren-Ärzten (145 %). Die Versorgung mit Urologen liegt immer noch bei 131 Prozent, dahinter kommen Augenheilkunde (125 %), Kinderärzte (123 %) und Neurologen (122 %). Am schwächsten ist die Quote bei den Psychotherapeuten, liegt aber auch dort immer noch bei 114 Prozent. Dass die Bevölkerung dennoch einen anderen, oft schlechteren Eindruck gewinnt, könnte an der ungleichen Verteilung der Arztpraxen im Essener Stadtgebiet liegen. Denn die Quote berücksichtigt nur die Versorgung des kompletten Stadtgebiets, nicht aber kleinteiligere Stadtbezirksgrenzen. Ein Umstand, der auch von der AOK bemängelt wird.
Geburt und Kaiserschnitt
In Essen kommen auf jeweils 1000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren rechnerisch gesehen 55,9 Lebendgeborene. Nahezu jedes dritte Kind, das im Krankenhaus das Licht der Welt erblickt – genauer: 31,5 Prozent – kommt dabei per Kaiserschnitt. Mit beiden Werten liegt die Stadt über dem NRW- bzw. Rheinland-Durchschnitt.
Hebammen
Die Geburt eines Kindes bringt viel Freude, aber auch eine Menge Unsicherheit für die Eltern mit sich. Viele setzen deshalb auf die individuelle Betreuung durch eine Hebamme, aber die haben Essen nicht als Pflaster für sich entdeckt. So stehen jeweils 1000 Geburten statistisch nur 16,4 Hebammen gegenüber, die innerhalb von vier Jahren Leistungen abgerechnet haben. Noch niedriger liegt der Wert in Duisburg (14,0) oder gar Oberhausen (10,8), dagegen kommt Aachen auf 40,0 und der Rheinisch-Bergische Kreis gar auf 53,4.
Pflegebedürftige
Auf je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kommen in Essen 5033 pflegebedürftige Personen, ein Wert deutlich unter dem Durchschnitt im Rheinland, der bei 5318 Menschen liegt. An der Spitze dieser Statistik stehen unter anderem Krefeld (6629) und der Kreis Euskirchen (6987). Deutlich höher als der Schnitt liegt Essen allerdings beim Blick auf die Zahl der Pflegebedürftigen in Heimen: Hier belegt Essen mit 1162 Personen pro 100.000 Einwohner den 4. Platz. Zum Vergleich: Köln landet mit 695 Personen auf dem letzten Rang.
Pflegebedürftige mit Demenz
Die Diagnose Demenz ist bitter für alle Beteiligten, denn die Krankheit lässt sich bisher nicht therapieren und führt zu einer weitreichenden Pflegebedürftigkeit. In Essen ist der Anteil der Pflegebedürftigen mit einer Demenz mit 34,2 Prozent besonders hoch, überflügelt nur von Oberhausen (34,8 %). Am anderen Ende der Skala liegen unter anderem Duisburg (28,3 %) und Leverkusen (25,2 %).
Pflege-Eigenanteil
Die Gesamtkosten für einen Platz im Pflegeheim liegen im Rheinland bei durchschnittlich 2122 Euro. Beachtliche Unterschiede gibt es allerdings beim einrichtungseinheitlichen Eigenanteil, der mit den Kostenträgern ausgehandelt wird. In Essen ist dabei der zweithöchste Satz zu zahlen: 934 Euro, das sind immerhin 76 Euro mehr als der Durchschnitt im Rheinland. Noch höher liegt nur Krefeld mit 1036 Euro, während man in Oberhausen (817 €), Hamburg (805 €) oder auch im Kreis Euskirchen (716) deutlich billiger davonkommt.