Essen. Obdachlose trüben das Image der Einkaufsstadt Essen. Trotzdem werden sie nicht im Stich gelassen. Auch sie sind Bürger dieser Stadt, heißt es.
Es ist Montagmorgen kurz vor acht Uhr, die Essener Innenstadt erwacht: Verkäuferinnen und Angestellte eilen in der Dämmerung vom Hauptbahnhof zur Arbeit, Lieferwagen versorgen die Geschäfte auf der Kettwiger mit Nachschub, Kehrwagen der EBE putzen die Einkaufsstraßen. Auch für Michael Rieger beginnt ein neuer Tag. Der 74-Jährige ist obdachlos, der windgeschützte Eingangsbereich des Modegeschäftes Sinn ist seine kalte Schlafstatt. Die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. „Ich bin seit ein paar Monaten in Essen“, sagt Rieger. Sein markanter Akzent allein verrät schon seine Herkunft, aber er betont sie ausdrücklich: „I bin aus Bayern.“
Michael Rieger ist nicht der einzige, der in der Innenstadt vor einer Ladentür oder in irgendeiner Ecke versteckt sein Nachtlager aufschlägt. Eine Velberterin, die wegen Arztterminen jetzt häufiger nach Essen muss, findet das Ausmaß an sichtbarer Obdachlosigkeit „erschreckend“. Vor drei Wochen seien es allein zwischen Hauptbahnhof und Marktkirche fast ein Dutzend Menschen gewesen, die in Schlafsäcke gehüllt unter freiem Himmel die Nacht verbracht hatten.
Die Zahl der Obdachlosen in Essen hat sich binnen fünf Jahren auf 40 verdoppelt
Als Abteilungsleiter „Hilfen zum Wohnen“ im Essener Sozialamt hat Bodo Kolling einen sehr guten Überblick über die Situation von Wohnungs- und Obdachlosen in dieser Stadt. Trifft die allgemeine Wahrnehmung zu, dass das Problem Obdachlosigkeit zugenommen hat? „Ja“, sagt er, und belegt dies mit Zahlen. „Aufs ganze Stadtgebiet verteilt gibt es 40 Menschen, die von Straßen-Obdachlosigkeit betroffen sind, davon zehn in der Innenstadt.“ Vor fünf Jahren seien es 15 bis 20 gewesen. Rein statistisch gesehen hat sich die Zahl also glatt verdoppelt.
Die Habseligkeiten, die Michael Rieger bei sich hat, sind sehr übersichtlich: zwei schmutzige Schlafsäcke in einer großen Ikea-Einkaufstasche, ein Rucksack, eine Tüte mit Pfandflaschen und Dosen. Und die Krücke, weil ihm das Laufen schwerfällt. „Ich hatte vor ein paar Jahren einen Schlaganfall.“ Und lange davor ein bürgerliches Leben mit Ehefrau und drei Kindern. „Ich war Fernfahrer und hab gut verdient“, nuschelt er in seinen Bart.
Vor der Tür von Sinn fühlt er sich nachts relativ sicher. Die Laterne gegenüber leuchtet seinen Schlafplatz aus. „Die öffnen um zehn, dann bin ich längst weg.“ Die kurzen Schnürsenkel reichen nur noch für zwei, drei Löcher seiner kaputten Schuhe, die ihm fast von den Füßen fallen. Rieger bricht auf zur Bahnhofsmission. „Da gibt’s Kaffee und was zu essen.“ Das Mittagessen holt er sich später in der Lindenallee bei der Diakonie.
Frühstück in der Bahnhofsmission, Mittagessen bei der Diakonie
Was ihn stört, sind die „Verrückten“, die ihn anmachen und übel provozieren. Über die Einsatzkräfte von Polizei und Ordnungsamt verliert er kein schlechtes Wort, im Gegenteil: Die Stadt Essen hat eigens eine Art Weckdienst eingerichtet, der die Obdachlosen in den Geschäftseingängen morgens vor acht gezielt anspricht. In freundlichem Ton werden sie aufgefordert, Rücksicht auf Mitarbeiter und Kunden zu nehmen und den Platz zu räumen. Man kennt sich mit der Zeit, Zwischenfälle sind die große Ausnahme.
Auch Ingrid Steinhauer-Sarr, Vorsitzende der Initiative „FairSorger Essen e. V.“, beobachtet eine Zunahme von Wohnungslosen und Bedürftigen. Wenn die Ehrenamtler an der Gertrudiskirche zum Pferdemarkt hin mehrmals in der Woche ihren Stand mit warmen Speisen und Getränken, Hygieneartikeln und Kleiderspenden aufschlagen, reihen sich immer mehr „Gäste“ in die Warteschlange ein.
„Corona hat das Problem Wohnungslosigkeit verschärft“, findet die Vorsitzende. Leute aus dem künstlerischen Bereich hätten durch die Pandemie zuerst ihren Job und dann die Wohnung verloren, weil plötzlich das Geld für die Miete fehlte. Wer ohne familiäres Netzwerk dastehe und mit Behördengängen überfordert sei, dem drohe der Absturz ins Nichts. „Die FairSorger könnten viel mehr Bedürftigen helfen, aber nicht alle öffnen sich.“ Zu groß sei oft die Scham über den Abstieg.
In der Corona-Krise haben sich Stadt, Verbände und Ehrenamtler noch stärker vernetzt
Das Sozialamt, Wohlfahrtsverbände wie Diakonie, Caritas und DRK, sowie ehrenamtlich tätige Initiativen haben ein stabiles Netz für Wohnungs- und Obdachlose sowie Bedürftige gespannt. Es gibt die „sta(d)tt-brücke“, die Bruderhilfe, Einrichtungen der GSE, das Kältezelt und vieles mehr. Die Notschlafstelle in der Lichtstraße, die normalerweise 50 Plätze bietet, musste coronabedingt auf 35 runtergefahren werden. „Zusätzlich haben wir zwölf Plätze in einem Hotel in der Innenstadt angemietet“, sagt Bodo Kolling. Hinzu komme die neue Notschlafstelle speziell für Frauen in der Grimbergstraße in Kray mit 15 Plätzen. „Wer in Not geraten ist und nachts eine Unterkunft sucht, findet in Essen einen Platz“, sagt Petra Fuhrmann, Bereichsleiterin Ambulanten Wohnungslosenhilfe im Diakoniewerk. Schlimmstenfalls müsse für eine Nacht eine Matratze als Provisorium reichen. Und sie betont: „Corona hat dazu geführt, dass wir uns in Essen noch stärker vernetzt haben.“
Das Phänomen Wohnungslosigkeit ist schwer zu fassen, weil die Grenzen oft fließend sind und vieles im Dunkelfeld bleibt. „Wer kein abgesichertes Mietverhältnis hat, ist von Wohnungsnot betroffen“, sagt Bodo Kolling. Darunter fallen zum Beispiel Couchsurfer und Leute, die sich in Gartenlauben einquartieren. Ingrid Steinhauer-Sarr weiß auch von Frauen in Essen – seltener von jungen Männern – zu berichten, die sich prostituieren: Sex für ein Dach über dem Kopf.
Die Frau sitzt mit zitternden Händen an der Porschekanzel und bettelt
Es ist halb neun, die Glocke der Marktkirche ertönt. Vor dem Backwarengeschäft an der Rathaus-Galerie treffen sich ein halbes Dutzend Leute aus der Szene, einige sind auf Entzug und krank. An der Porschekanzel lässt sich eine Frau vor dem leuchtenden Känguru nieder, um zu betteln. Sie sitzt auf einem Stück Europalette mit einer Decke darüber. Ihre Hände zittern so sehr, dass sie kaum ihre selbstgedrehte Zigarette anzuzünden vermag. Sie stellt den Pappbecher mit einem Weihnachtsmann auf, eine Passantin sieht ihr schmerzverzerrtes Gesicht und wirft eine Münze rein. Das Problem: Wegen Corona trauen sich immer weniger Menschen, sich Bettlern zu nähern und zu spenden.
Die Strahlkraft der Einkaufsstadt Essen hat in den letzten Jahren spürbar nachgelassen, das Problem Obdachlosigkeit verstärkt diesen Negativtrend. Trotzdem geht Helfen vor Repression. „Auch Leute ohne Obdach sind Bürger unserer Stadt“, betont Petra Fuhrmann vom Diakoniewerk. Die Besucherin aus Velbert reagiert ebenfalls empathisch, sie sagt: „Der Anblick der Obdachlosen stört mich nicht, es tut mir nur leid.“