Essen. Dietrich Hilsdorf hat die Essener Aalto-Oper in 33 Jahren mit 20 Inszenierungen geprägt. Alle warten nun gespannt auf „Lucia di Lammermoor“.

Er ist wieder zurück am Aalto-Theater. Der Ort, wo Dietrich Hilsdorf gefeiert und ausgebuht wurde. Alle vier Intendanten engagierten ihn, unabhängig, ob sie ihn wie Stefan Soltesz mehr oder weniger geschätzt haben. Stets löst der Regisseur Aufregung und Neugier aus. Bühnenarbeiter, Beleuchter, Pförtner oder das langjährige Ensemblemitglied Rainer Maria Röhr sind über seine Rückkehr erfreut. Er hat seine bejubelte Inszenierung von „Lucia di Lammermoor“ im Gepäck, die bereits an der Semperoper ein Hit war. „Das wird kein Aufguss aus Dresden“, verspricht er den Essenern zur Premiere.

Regie-Legende sieht seine große Liebe im Schauspiel

„Ich muss gleich zur Blutprobe“, sagt Dietrich Hilsdorf und schon steht Sorge um die Essener Regie-Legende im Raum. Eigentlich wirkt er, der in diesem Jahr 73 wird, ganz vital. Er steckt voller Tatendrang, Geschichten, Ideen. Und er nimmt sich Zeit, davon zu erzählen. „Ich fühle mich manchmal wie 50“, bemerkt er. Vor zwei Jahren zog er von Berlin aufs Land nach Vorpommern. Er gärtnert gern, hört laute Musik und empfängt seine Bühnenbildner zu Besprechungen. Seine Arbeit verschlägt ihn aber meist an Rhein und Ruhr. „Über 170 Inszenierungen sind es bisher. Ich will 200 schaffen“, betont Hilsdorf.

Opern, denkt man. „Meine große Liebe ist das Schauspiel. Die wenigsten Intendanten wissen das. Es wird mir nicht angeboten“, sagt er. Bei den alten Griechen würde er gern noch mal nachschauen, bei den Klassikern und den Realisten. Theater bedeutet für ihn erforschen, ergründen. Das gilt auch für seine Opernregie, die vom Schauspiel und damit exakter Figurenzeichnung geprägt ist. Seit genau 40 Jahren werden ihm Opern angeboten. Und es war kein Zufall, dass der damalige Gelsenkirchener Generalintendant Claus Leininger ihm anfangs Werke in die Hand drückte, die auf Originalvorlagen basieren.

„Eugen Onegin“ war sein Auftakt - auch, was die Provokationen angeht. „Ich hatte nichts Böses gemacht. Ich hatte nur das Libretto und Puschkin genau gelesen“, erinnert er sich. Eine Methode nach Felsenstein, der er sich stets bedient. Bei „Don Carlos“ in Essen war es Schiller. Bei „Luisa Miller“ auch. „Babys auf Bajonetten habe ich mir nicht einfallen lassen. Das steht bei ,Kabale und Liebe’ drin“, beteuert der Verdi-Experte. Radikale Deutungen, die Verquickung von Sex und Religion lösten heftige Reaktionen aus. Ausverkauft waren seine Inszenierungen dennoch.

Der grandiose Erfolg an der Semperoper eilt ihm voraus

Nach der Bluttat: Probenfoto von Dietrich Hilsdorfs Inszenierung „Lucia di Lammermoor“ auf der Bühne des Aalto-Theaters mit der israelischen Sopranistin Hila Fahima (rechts) in der Titelrolle.
Nach der Bluttat: Probenfoto von Dietrich Hilsdorfs Inszenierung „Lucia di Lammermoor“ auf der Bühne des Aalto-Theaters mit der israelischen Sopranistin Hila Fahima (rechts) in der Titelrolle. © Matthias jung

Seine Beliebtheit zeigt sich derzeit schon vor der Premiere von „Lucia di Lammermoor“ an der Theaterkasse. Er sei eben eine Marke in Essen, so der Faust-Preisträger. Zudem eilt ihm der grandiose Erfolg bei seinem Semperoper-Debüt voraus. Doch ruht sich Hilsdorf auf seinen Lorbeeren nicht aus. Je mehr er über eine Oper weiß, je mehr will er wissen. Ein Prozess, bei dem er seine Sängerinnen und Sänger einbezieht in sieben Probenwochen. „Wir haben uns ganz neu auf das Stück eingelassen“, berichtet Hilsdorf.

Donizettis Meisterwerk eroberte ab 1835 die Welt. Es sei eine Kolportage, eine Illustriertengeschichte. Da stecke Liebe, Mord und Grusel drin, erläutert er: „Braut ermordet Bräutigam in der Hochzeitsnacht.“ Die Ursachen findet er vor allem in Walter Scotts zugrundeliegendem Bestsellerroman von 1819. „Lucia ist nicht psychisch gestört. Ihr ist von der Familie so zugesetzt worden, dass sie in eine Notlage gerät“, erklärt Hilsdorf. Diese verschärft der Regisseur, in dem er Raimondo zu einem weiteren Bruder Lucias macht und Alisa als tote Mutter aus dem Grab auferstehen lässt. Lucias Liebe zu Edgardo, Spross eines verfeindeten Clans, hat keine Chance. „Ich habe viel Material aus dem Roman geholt, um ursprüngliche Reibungen wiederherzustellen“, sagt er über seine Inszenierung.

Selten gespielte Glasharmonika erklingt zur Wahnsinnsarie

Die schwarze, mit Leuchtröhren zugespitzte Bühne von Hilsdorfs langjährigem Wegbegleiter Johannes Leiacker stößt auf die schwarzen, an das 19. Jahrhundert angelehnte Kostüme von Gesine Völlm und strahlt Bedrohung aus. Vor diesem Hintergrund wird Lucia mit der Zwangsheirat in die berühmte Wahnsinnsarie getrieben. Die selten gespielte Glasharmonika erklingt dazu. Auch nicht ohne Grund: „Die Glasharmonika war im 18. Jahrhundert ein Heilmittel bei psychischer Verwirrung. Wir machen sie damit noch verrückter“, legt er dar. Donizettis Komposition sorgt ebenso für Gegensätze. „Eine so elegante und wunderschöne Musik bei einem bitterbösen Stück“ wirft Fragen auf. Wer jetzt noch glaubt, dass böse Menschen keine Lieder kennen, wird eines Besseren belehrt.

Schon seit Jahren wird Dietrich Hilsdorf als altersmilde beschrieben. Doch das sei er nicht, sagt er. „Ich bin nur genauer geworden. Ich würde gern mal wieder draufhauen, wenn es verlangt wird.“ Bei „Lucia di Lammermoor“ nicht. Da ist einzig Präzision angesagt. Das Ensemble zeigt sich interessiert an seinen Literaturempfehlungen. Der Chor probiert alles Mögliche mit ihm aus. Beides freut ihn. „Ich habe den Ruf, Stühle aus dem Fenster zu schmeißen. Der Liebe tut das keinen Abbruch“, meint Hilsdorf und muss nun wirklich zur Blutprobe. In einer Dusche wird getestet, ob das Blut bei der Familientragödie richtig fließt.