Bejubelt und befehdet:Regisseur Dietrich Hilsdorf ist in 25 Aalto-Jahren vom Bürgerschreck zum Publikumsliebling avanciert. Mit „Die Räuber“ setzt er den vorläufigen Verdi-Schlusspunkt
Dietrich Hilsdorf weiß, dass das Dicke-Bretter-Bohren zur Theaterarbeit gehört. Den ersten Nagel hat er persönlich in den Aalto-Bühnenboden versenkt. Damals, vor 25 Jahren, „als hier alles noch so schön und neu war, da hat sich kein Bühnenarbeiter getraut.“ Die Szene steht sinnbildlich für den heute 65-jährigen Theatermacher, der mit der 25-jährigen Geschichte des Esseners Musiktheaters so eng verbunden ist wie kein anderer Regisseur. Anpacken, durchgreifen, zuspitzen, das sind seine Disziplinen. Gerade probiert Hilsdorf für seine 19. Aalto-Inszenierung. Verdis „I masnadieri“ feiert am 8. Juni Premiere.
Die Dame schrie: „Hängt ihn auf“
Mit Verdis „Don Carlo“ hat es 1988 angefangen, mit Verdis „Räubern“ hört es 2013 auf. Vorläufig zumindest, denn Hilsdorf kennt nun mal das alte Theatermotto: „Der Intimfeind des Intendanten sind sein Vorgänger und sein Nachfolger.“ Und Hilsdorfs Name zieht sich durch die Ära Soltesz wie ein dickes Tau durch die Takelage: Bizets „Carmen“ hat er in eine Gelsenkirchener Spelunke verlegt und die Barock-Oper „Semele“ frech als „Händels einzige Operette!" verkauft. Und immer wieder Verdi: Maskenball, Troubadour, Macht des Schicksals. Mit dem „Don Carlo“ hat er gleich 1988 seinen Ruf als Enfant terrible begründet. Gern erinnert Hilsdorf heute noch an die Dame im grünen Kleid, die nach der Premiere aufgeregt „hängt ihn auf, aufhängen“, skandiert hat. Sie war nicht die einzige, die Hilsdorf auf die Barrikaden gebracht hat. Drei Aktenordner füllen im Aalto alleine die Publikumsreaktionen auf „Il Trovatore“.
Saftige Theater-Skandale sind Hilsdorf-Abende schon lange nicht mehr. An die Stelle von klerikalem Halligalli und krasser Konfrontation sind Konzentration, Konkretion, vor allem eine enorme Genauigkeit getreten, die in keiner Hilsdorf-Arbeit je Raum gelassen hat für die bloße provokante Geste. Wenn der 65-Jährige den schweren Faltenwurf des erhabenen Bildungstheaters heute beiseite zieht, dann nicht, um die Stoffe bloß zu stellen oder um jeden Preis zu modernisieren. Im Gegenteil: Entstehungszeit des Werks, Herkunft und Rezeptionsgeschichte sind ihm wichtig. Jeden Urtext liest er zuerst, vergleicht ihn mit dem Libretto. „Aber je älter die Stücke sind, desto weniger kann man sie in ihrer Zeit belassen.“
„Die Räuber“ im Gewand der kapitalistischen Neuzeit
So ergeht es auch den „Räubern“, einem selten gespielten Frühwerk Verdis, die man im Aalto demnächst nicht in Räuberzivil, sondern in Schlips und Kragen erleben wird. Ein Familiendrama im Gewand der kapitalistischen Neuzeit. Den Wald immerhin gibt es noch. „Das wird die Leute erst einmal beruhigen“, grinst Hilsdorf, der bei aller Reife und Erfahrung immer noch die Lust an der Reibung, an der Gegenrede spüren lässt.
Ausgerechnet der Ausflug ins kommerzielle Musical habe Ende der 1990er den Umbruch in seiner Biographie gebracht, sagt Hilsdorf. Bei der deutschen Erstaufführung von „Jekyll und Hyde“ in Bremen sei ihm schnell klar gemacht worden, warum es geht: volles Haus, und zwar jeden Abend über viele Monate. „Da kippte was“, erinnert sich Hilsdorf heute. Vielleicht lag es auch daran, dass er gerade 50 wurde, das Herz für die Kunst irgendwann mal allzu heftig gepocht hat, oder er sich öfter fragt, was denn seine beiden Töchter, Anfang 20, gerne im Musiktheater sehen würden. Jedenfalls versteht er sich heute eher als Verführer denn Verstörer des Publikums. Einer freilich, bei dem man auf alles gefasst sein muss.
„It’s only theatre“ (ist ja bloß Theater) schreibt er zur Erinnerung heute auf jedes Pult. Im Grund, sagt Hilsdorf, fühle er sich inzwischen mehr wie ein Trainer, der anderen zeigt, wie man die Hürden nimmt.
Ein Meilenstein mit „Aida“
Ein Meilenstein der Hilsdorf-Ära ist bis heute die „Aida“, seit 24 Jahren auf dem Aalto-Spielplan, auch in der 69. Vorstellung noch hoffnungslos ausverkauft. Bei der Premiere einst von einem Buhorkan begleitet, heute Kult. Ein Opern-Phänomen.
Der enorme Erfolg wundert Hilsdorf bis heute. Sex und Religion, nun ja, die Kombination biete halt immer noch Sprengstoff. Viel spannender war für ihn aber beispielsweise die Brecht-Oper „Die Verurteilung des Lukullus“. Oder ,Orpheus in der Unterwelt’. „Da war sehr viel gelungen“, findet Hilsdorf rückblickend. Das Vorhersehbare, Kalkulierte langweilt ihn, wie die Frage, ob es denn wieder Nackte auf der Bühne gibt. Nächstes Jahr wird er wieder eine „Aida“ wagen, in Bonn. Er weiß, was nicht mehr geht. „Aber von den Memphis Twins kann ich mich schlecht trennen“, lacht Hilsdorf. Der Auftritt der Zwillinge in ihrem aufreizenden Manegen-Dress war ein reiner Zufall. „Zwei Tänzerinnen waren gerade aus einer Operettennummer geflogen und fragen mich in der Kantine, ob sie mitmachen könnten .“
Geschichten wie diese könnte Hilsdorf zu Hunderten erzählen. 19 Produktionen, das sind rauschende Erfolge, legendäre Theater-Kräche, Windhunde auf der Bühne, inszenierte Kinderhinrichtungen, wütende Leserbriefe und ein Chor, der auch nicht nur glücklich war mit Hilsdorfs filigraner, aber auch fordernder Regie-Arbeit. „Du hast die Lederstiefel an, ist wieder Chorprobe?“, hat seine Frau früher gescherzt. Aber der Tag, als ihm alle während der Probenzeit zur Geburt seiner Tochter gratuliert haben, zählt heute zu seinen schönsten Erinnerungen.
Dann muss er auf die Bühne, dem Chor erklären, dass eine Szene, die man gestern probiert hat, doch nicht funktioniert. Worauf er sich besonders freut? „Ist doch schön, mal einen Verdi zu hören, den man nicht gleich mitsingen kann.“