Essen. „Der Widerspenstigen Zähmung“ zeigt das Aalto-Ballett Essen nach fast 25 Jahren erneut. Wie Cranko-Experte Reid Anderson die Komödie sieht.
1997 war John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ erstmals am Aalto-Ballett unter Martin Puttke zu sehen. Gorica Stancovic und Vladimir Grigoriev brillierten in der Ballettkomödie von 1969, die die Bühnen der Welt längst erobert hatte. Da wird eine eigenwillige Frau für die Ehe zurechtgestutzt wie in Shakespeares Publikumshit von 1593. Doch kann man das meisterlich erzählte Tanzstück im Wandel der Geschlechterpolitik heute noch zeigen? „Ich denke schon“, meint der ehemalige Stuttgarter Ballettdirektor und Cranko-Experte Reid Anderson. Er verleiht der Compagnie bis zur Premiere ein Feintuning.
Herr Anderson, als „Der Widerspenstigen Zähmung“ von John Cranko aus der Taufe gehoben wurde, waren Sie just an das Staatstheater Stuttgarter engagiert worden. Wie war die erste Begegnung mit der Choreografie?
Ich kam zwar vom Royal Opera Ballet in London, war aber fast frisch von der Schule und tanzte bei der Premiere das Pas de huit, das heute ein Pas de six ist. Als ich die „Zähmung“ bei den Proben sah, war ich total baff. Diese Pas de deux sind das Schwerste, das ich kenne. Marcia Haydée (Anm.: damals Primaballerina) war so furchtlos. Sie konnte alles umsetzen. Ich habe ziemlich schnell auch Hortensio und Lucentio getanzt und später Petrucchio. Ich habe diese Rollen sehr oft getanzt.
Wer hat mit Ihnen die Rollen erarbeitet?
Marcia und Ricky (Anm.: Richard Cragun) haben mir Petrucchio 1976 beigebracht. Ich habe da sehr viel gelernt. Man vererbt es weiter, was man gelernt hat.
Was hat Sie an „Der Widerspenstigen Zähmung“ begeistert?
Die Kampf-Pas de deux. Sie basieren auf Kampfsport. Das hat vor John Cranko keiner gemacht und keiner nach ihm. Er war nicht nur ein sehr guter Choreograf, auch so ein guter Dramaturg. Du verstehst alles ohne Worte. Und er hat die Zähmung schnell gemacht - in sechs Wochen.
Was müssen die Tänzerinnen und Tänzer lernen?
Es ist Hochleistungssport - wie Tanzen fast immer. Es kann auch gefährlich sein, da die Katharina hochgeworfen wird. Das hat alles mit Timing bei der Komödie zu tun. Die Komödie muss schnell werden. Die Hebefiguren sind schwierig. Die vielen kleinen Schritte sind schwierig. Und Scarlattis Musik ist auch kompliziert. Es ist ein Berg, den man schaffen muss. Das dauert eine Weile.
Sind Sie mit dem bisherigen Ergebnis in Essen zufrieden?
Ich war glücklich, als ich gesehen habe, wie weit sie sind. Die Probe mit dem Orchester verlief fast reibungslos. Die Kostüme und das Bühnenbild sind original von Elisabeth Dalton und wurden aus Karlsruhe aufgekauft.
Choreologin Jane Bourne hat das Stück mit der Compagnie einstudiert. Was ist Ihre Aufgabe?
Ich kenne Jane sehr gut. Seit Jahrzehnten studieren wir Cranko-Ballette ein. Sie ist seit sechs Wochen in Essen und hat alle Schrittkombinationen gezeigt und wie man heben muss. Ich muss da Leben reinblasen. Ich bringe den Tänzern die Bedeutung der Schritte bei. Man muss glaubwürdig sein als Charakter. Ich kann die Griffe beim Heben zeigen. Obwohl ich 72 bin, bin ich noch sehr beweglich.
Bei dem erfolgreichen „Onegin“ haben Sie zuvor die Besetzung gemacht. Haben Sie auch jetzt die passenden Typen in Essen gefunden?
Ich mache immer die Besetzungen. Seit Mitte August bin ich nach dem Lockdown wieder im Einsatz. Von zero auf hundert. Ich war für „Onegin“ in Wien und Berlin, für „Romeo und Julia“ in Prag und bin auch hierhergeflogen. Ich kenne die Tänzer und weiß, wie sie sich bewegen. Es gibt nicht nur einen Typ für die Rollen. Die Katharina muss eine gewisse Stärke haben und am Schluss eine feminine Qualität. Dass die Tänzer das nicht hinkriegen, ist nicht das Problem. Bei einer kleinen Compagnie wie der Essener sind es die Verletzungen. Da gibt es kaum Ersatz.
Kann man diesen Geschlechterkampf angesichts der angestrebten Gleichbehandlung der Geschlechter heute noch aufführen?
Ich denke schon. Das Stück ist ein Kunstwerk mit Herz und Charme. Es zeigt, wie es mal zwischen Mann und Frau war, nicht, wie es ist. Am Ende sind sie gleichwertige Partner. Manche Theater trauen sich nicht, es zu zeigen wegen der „Me too“-Debatte. Es ist vor allem in Amerika nicht mehr so gefragt, wie in den 70er Jahren. Ich kann das verstehen. Aber ich sehe das nicht so.
Was erwartet das Publikum?
Ein lustiges, lockeres, farbenfrohes Ballett, das die Geschichte von Katharina und Petrucchio augenzwinkernd erzählt. Es sollte Spaß machen.
Wer ist wer in „Der Widerspenstigen Zähmung“
Paraderolle für die frischgebackene Aalto-Bühnenpreisträgerin: Adeline Pastor ist als widerspenstige Katharina und Moises León Noriega als Draufgänger Petrucchio in John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ zu sehen.Des Weiteren wirken Larissa Machado als liebreizende Bianca sowie Wataru Shimizu als Lucentio, Matheus Barboza de Jesus als Hortensio und Denis Untila als Gremio mit.Die Essener Philharmoniker spielen unter der musikalischen Leitung von Wolfgang Heinz.Die Premiere am Samstag, 30. Oktober, ist ausverkauft. Weitere Termine und Karten unter: 0201/ 8122-200 oder https://www.theater-essen.de