Essen. Zur Krisenbewältigung bleiben die Konsequenzen oft aus. War was? Wie das Essener Festival Literatürk den Wunsch nach Normalität in Frage stellt.
An Krisen und gesellschaftlichen Bedrohungen mangelt es in diesen Tagen nicht. Und doch wollen viele nichts anderes als „zurück zur Normalität“. Die Corona-Krise endlich hinter sich lassen, den Klimawandel-Sorgen am Wochenende mit dem SUV davonbrausen und die Gefahr von Rechts am liebsten mal ausblenden und wieder zur Tagesordnung übergehen. „War was?“ Die Frage, ebenso lapidar wie umfassend, hat das Lesefest Literatürk deshalb zum Motto der 17. Festival-Ausgabe erklärt. Die scheinbare Normalität, das „Weiter so“ habe schließlich manche Krise erst herbei geführt, sagen die Programmmacher. Und wollen vom 8. bis 17. November darüber lesen lassen.
„Kunst und Kultur der Einwanderungsgesellschaft“ lautet zwar noch der Untertitel des Festivals. Aber längst seien in einer globalen Welt doch auch die Probleme grenzübergreifend. „Grenzziehungen werden immer fluider“, sagt Fatma Uzun, eine der drei Organisatorinnen und Organisatoren neben Semra Uzun-Önder und Johannes Brackmann.
Angebot der Online-Lesungen soll vorerst Bestandteil des Literatürk-Festivals bleiben
Fragen statt Verdrängen: Wie sich existenzielle Entscheidungen ohne sichere Datengrundlagen und in größter Eile treffen lassen, darüber wird beispielsweise bei einer Online-Lesung mit Public-Viewing unter dem Titel „Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit“ diskutiert (17. November, 19.30 Uhr, Youtube/Kulturzentrum Grend). Autor Adriano Mannino ist nicht der einzige, der in diesem Jahr per Live-Stream zum Publikum kommt. Das Angebot der Online-Lesung wollen die Literatürk-Macher trotz sinkender Inzidenzzahlen auch in diesem Jahr beibehalten.
Im Vorjahr habe man gute Erfahrungen mit dem digitalen Format gemacht, sagt Johannes Brackmann. Zudem konnten Autoren gewonnen werden, die sonst lange Flugreisen hätten in Kauf nehmen müssen. Geschont werden also Klima und Festival-Etat. Viktor Martinowitsch, 1977 in Belarus geboren, ist beispielsweise mit seinem Buch „Revolution“ auf dem Youtube-Kanal des Festivals zu Gast (9. November, 19.30 Uhr). In den USA lebt mittlerweile der Nigerianer Helon Habila, dessen Roman „Reisen“ am Beispiel eines nigerianisch-amerikanischen Akademikers ein Mosaik unterschiedlicher migrantischer Erfahrungen entwirft (10. November, 19 Uhr, auf Youtube).
Ebenfalls online berichtet die Juristin und Frauenrechtlerin Cânân Arin am 11. November, 19.30 Uhr, über die Situation der Frauen in der Türkei und über die Bedeutung der türkischen Frauenbewegung als mittlerweile größte Oppositionsbewegung in der Türkei. Das komplexe Feld der Identitätspolitik beleuchtet Mithu Sanyals Roman „Identitti“. Die Kulturwissenschaftlerin Sanyal erzählt darin ebenso wissend wie gewitzt, wie die wahre Herkunft einer „Person of Color“ zum veritablen Skandal werden kann (13. November, 19.30 Uhr, Stadtbibliothek).
Das Rahmenprogramm
Das Lesefest Literatürk läuft vom 8. bis 17. November. Alle Infos, auch zu Ticketpreisen unter www.literatuerk.com. Die Youtube-Lesungen sind kostenfrei.
Zum Rahmenprogramm gehört unter anderem ein Workshop „Szenisches Schreiben“ (30. Oktober/1. November) im Kulturzentrum Grend. Die Steeler Kultureinrichtung feiert vom 5. bis 17. November außerdem ihr 25-jähriges Bestehen.
Die 17. Essener Jugend-Anthologie wird an 23. November, 17.30 Uhr, in der Volkshochschule präsentiert.
Hani, Kasih und Saya sind drei dieser Personen. In Shida Bazyars Buch „Drei Kameradinnen“ erleben sie lebenslange Freundschaft, aber auch wachsenden Hass und rechten Terror (15. November, 19.30 Uhr, Rü-Bühne). Wie tief rassistisches Denken nach wie vor verankert ist und wie leicht es doch aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet, beschreibt Mohamed Amjahid in „Der Weiße Fleck“ (16. November, 19.30 Uhr, Kulturzentrum Grend).
Essener Lesereihe: Vom Osmanischen Reich in die Weiten des World Wide Web
Mit Herkunftsfragen bedeutender Kulturgüter beschäftigen sich Dilek Zaptçioglu und Jürgen Gottschlich in „Die Schatzjäger des Kaisers“ und erweitern die Raubkunst-Debatte dabei um den Aspekt der Ausgrabungen von deutschen Archäologen wie Carl Humann im ehemaligen Osmanischen Reich (12. November, 19.30 Uhr, Youtube). Von den Expeditionen zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs zu den Expeditionen im World Wide Web: Dietmar Dath eröffnet das Festival am 8. November, 19.30 Uhr, im Filmstudio Glückauf mit „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“, einem Roman über die Chancen und Möglichkeiten der Rechentechnik der Gegenwart.