Essen. In Afghanistan hatten sie Todesangst, in Essen sind sie in Sicherheit: Das junge Ehepaar – beide Ortskräfte – ist trotzdem voller Sorgen.
Es sind aufwühlende Bilder, die im August um die Welt gehen: Verzweifelte Menschen klammern sich auf dem Flughafen von Kabul voller Todesangst an Flugzeuge in der Hoffnung, sich vor den Taliban retten zu können. Zu denen, die im letzten Augenblick den erlösenden Flug in die Freiheit geschafft haben, gehören Mariam und Shahed. Seit dem 26. August hat das junge Ehepaar in Essen ein sicheres Dach über dem Kopf: im Kloster Schuir, das nach dem Wegzug der Barmherzigen Schwestern Flüchtlingen als Übergangswohnheim dient.
Mariam (30) und Shahed (29) sind nicht ihre wirklichen Vornamen. „Aus Angst vor den Taliban möchten wir anonym bleiben“, sagen die beiden. Jetzt gehe es nicht mehr darum, ihr eigenes Leben zu schützen, sondern das ihrer Eltern, Brüder und Schwestern, die daheimgeblieben sind. Und nun mit der ständigen Furcht lebten, von den Schergen der neuen Machthaber verhört, gefoltert und schlimmstenfalls umgebracht zu werden. „Wir haben uns retten können, aber Ruhe finden wir trotzdem nicht“, sagt Mariam.
„Wir hätten unter der Taliban-Herrschaft keine Chance zu überleben“
Die 30-Jährige hat während der Stationierung der Bundeswehr in Masar-e-Sharif als Journalistin für einen Radiosender gearbeitet, den das Bundesverteidigungsministerium mitfinanzierte. Der Sender verstand sich als Stimme der Freiheit, die nun verstummt ist. „Ich bin in meiner Heimat eine bekannte Journalistin“, sagt Mariam. Sie und ihr Mann, der ebenfalls journalistisch tätig war, würden von den neuen Herrschern als Verräter angesehen. Als so genannte Ortskräfte stehen sie ganz oben auf den Todeslisten der Taliban. „Wir hätten keine Chance unter ihrer Herrschaft zu überleben“, sagen die beiden.
Obwohl das Ehepaar schon mehr als sechs Wochen in Deutschland weilt, kann von einer wirklichen Ankunft keine Rede sein. Zu frisch und zu schmerzhaft sind noch die Erinnerungen an die panikartige Flucht aus Afghanistan, über das sich mit der Machtübernahme der Radikalislamisten ein langer Schatten gelegt hat. Eine Hälfte von ihnen sei schon in Deutschland, die andere aber immer noch in Afghanistan. „Zweimal am Tag muss ich weinen“, sagt Mariam leise und fügt hinzu: „Mein Land ist ein Teil meines Körpers.“
Vor zwanzig Jahren – nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – hat das westliche Militärbündnis das Land am Hindukusch vom Joch der Talibanherrschaft befreit. Besonders Frauen wie Mariam empfinden die neue Freiheit als Segen. Sie studiert acht Semester Journalismus an der Universität von Masar-e-Sharif und wird Rundfunk-Journalistin. Seit der Machtübernahme vor drei Monaten drehen die Taliban das Rad der Geschichte wieder zurück. „Schulen und Universitäten sind für Frauen wieder geschlossen“, berichtet Mariam.
Journalisten stehen auf den Todeslisten der Taliban ganz oben
Journalisten, so fügt sie an, stünden per se unter Beobachtung der Taliban. „In Kabul haben sie damit begonnen, Kollegen von uns umzubringen.“ Ihr Mann Shaheh berichtet vom Fall eines Kollegen, den die Schergen der Taliban aufgesucht, jedoch nicht angetroffen hätten. „Stattdessen haben sie seinen Bruder ermordet.“
Die leise Hoffnung, die Taliban von heute seien gemäßigt und weniger radikal, ringt Mariam und Shaheh ein müdes Lächeln ab. Sie schütteln den Kopf und sagen: „Die sind noch gefährlicher als früher.“ Sie berichten von Regimegegnern, die spurlos verschwunden seien und von brutal verprügelten Demonstrantinnen, die ihr Gehör verloren hätten. Hinzu komme: Der Machtwechsel habe die Menschen in bittere Armut gestürzt. „Die Leute verkaufen ihr Hab und Gut, um Lebensmittel kaufen zu können.“
So hilft Essen den Ortskräften
Die drei afghanischen Familien im Kloster Schuir werden von der Caritas-SkF-Essen betreut. Um drei weitere Familien in der Flüchtlingsunterkunft an der Papestraße kümmert sich die Diakonie.
Die Familien werden mit Kleidung und den wichtigen Dingen des Lebens versorgt, so das Presseamt. Ihnen werden auch Sprach- und Integrationskurse angeboten.
Ortskräfte erhalten durch ihren Status eine zweijährige Aufenthaltsgenehmigung und müssen kein Asyl beantragen. Ihnen stehen darüber hinaus Leistungen des Sozialamtes zu. Fachkräfte von Diakonie und Caritas-SkF begleiten sie bei Behördengängen.
Die jungen Eheleute rechnen seit der Flucht von Masar-e-Sharif nach Essen nicht auf, wer wem wie dankbar sein muss. Sie sagen: „Wir haben in Afghanistan für die Deutschen gearbeitet, jetzt sind wir glücklich, was die Deutschen für uns getan haben.“
Die fürchterlichen Zustände am Kabuler Flughafen haben das Ehepaar traumatisiert
Die zwei fürchterlichen Tage am Kabuler Flughafen vor der Flucht haben sie zutiefst traumatisiert. Sie berichten von der dramatischen Situation an dem gut zwei Meter tiefen Entwässerungskanal, der bis oben hin mit Fäkalien und Dreck gefüllt ist. Der letzte Schritt in die Freiheit beginnt für die beiden mit einer schrecklichen Demütigung. Auch Mariam und Shaheh bleibt keine andere Wahl, als durch diese stinkende und Ekel erregende Jauchegrube zu waten bis zum rettenden Rollfeld.
Von Kabul fliegt die Luftwaffe sie außer Landes nach Taschkent, von dort geht’s über Frankfurt nach Essen. Im Übergangswohnheim am Schuirsweg trifft das junge Ehepaar auf weitere fünf Familien aus der Heimat. Von Essen haben sie noch nicht viel gesehen, nur einmal seien sie zum Einkaufen in der City gewesen.
In freudiger Erwartung: Schon bald wird das junge Ehepaar zu dritt sein
Ihr Leben spielt sich rund um das Kloster Schuir ab. Fast täglich telefonieren sie mit der Familie daheim. Und in der Gemeinschaftsküche bereiten sie sich leckere Speisen aus der Heimat zu: Reisgerichte mit Karotten, Rosinen und Fleisch, gefüllte Teigtaschen oder die Shorba-Suppe. Gegessen wird oben im Zimmer. „Wir möchten gerne so schnell wie möglich in den eigenen vier Wänden leben“, sagen sie. Ihr Bäuchlein verrät, dass sie schon bald zu dritt sein werden: Mariam ist hochschwanger und erwartet in anderthalb Monaten ihr erstes Baby.