Essen. Sonia M. Tahir und ihre Tochter aus Essen sitzen in Kabul fest. Die Taliban drohen, das Mädchen zu töten – weil die Sechsjährige Deutsche ist.
UPDATE:
Zu unserer aktuellen Berichterstattung geht es hier entlang: „Afghanistan: Essenerin und kleine Tochter sind gerettet“
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Ursprünglicher Artikel von Dienstag, 18. August:
Die dramatischen Bilder vom Flughafen Kabul lassen das Team einer Essener Zahnarztpraxis verzweifeln: Schon seit Wochen versuchen sie, einer jungen Kollegin mit afghanischen Wurzeln zu helfen, die mit ihrer kleinen Tochter (6) in dem Land festsitzt.
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Sie hätten Ministerien, Botschaften und Politiker kontaktiert und gebeten, die Essenerin nach Deutschland zurückzuholen, erzählt Kollegin Christiane Beyrich Immer wieder sei sie aufgefordert worden, Ruhe zu bewahren und abzuwarten: „Nun ist es vielleicht zu spät.“ Zuletzt schilderte Sonia M. Tahir aufgewühlt in einer Sprachnachricht, dass ihre kleine Tochter von den Taliban bedroht werde – weil sie Deutsche ist.
Von Essen nach Afghanistan: Junge Mutter sitzt in Kabul fest
Sonia M. Tahir ist in Afghanistan aufgewachsen, lebt aber seit einigen Jahren in Deutschland. Seit vier Jahren arbeitet sie in der Zahnarztpraxis Hentschel, Paulun, Herdick in Essen-Frohnhausen, wo sie auch ihre Ausbildung gemacht hat. Die 29-Jährige ist herzlich, beliebt, bestens integriert und hat einen Aufenthaltstitel, der ihr auch eine Reise in ihr Heimatland ermöglichte.
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Um ihre kranke Mutter zu besuchen, reiste sie vor drei Monaten nach Afghanistan. „Sie wollte dort nur drei Wochen bleiben“, erzählt Christiane Beyrich. „Dann rief sie in der Praxis an, um den Urlaub um zwei Wochen zu verlängern, weil es ihrer Mutter so schlecht ging.“ Eine Entscheidung, die sich im Nachhinein als fatal erwies, aber die Lage im Land sei da noch relativ ruhig gewesen.
Dann jedoch wurde Sonia M. Tahir ihr Visum gestohlen und der Versuch, in dem in Chaos und Gewalt versinkenden Land neue Papiere zu bekommen, erwies sich als Wettlauf gegen die Zeit. Von Deutschland aus versuchten die Kolleginnen und Kollegen aus der Zahnarztpraxis in Erfahrung zu bringen, an welche Stellen sich Tahir wenden könne.
Sie hätten mit Auswärtigem Amt, Ausländerbehörde, Botschaften, Bundestagsabgeordneten… gesprochen: „Immer wieder hieß es, es gebe Evakuierungspläne, immer wieder wurden wir vertröstet.“
Taliban drohen, die kleine Tochter zu töten
Auch als Sonia M. Tahir am Samstag (14. August) in der deutschen Botschaft in Kabul endlich ihr Visum erhielt und sofort mit ihrer Tochter zum Flughafen weiterfahren wollte, habe man ihr gesagt, sie solle erstmal nach Hause gehen, sagt Christiane Beyrich.
Dabei habe ihre Kollegin furchtbare Angst, in das Wohnhaus ihrer Eltern zurückzukehren: „Da hängt schon ein Zettel: ,Es ist ein deutsches Kind in diesem Haus: Wir müssen dieses Kind holen und töten.’“ Nach vielen Telefonaten mit Sonia M. Tahir glaube sie nicht mehr, dass sich mit den Taliban verhandeln lasse oder die tatsächlich heute gemäßigter seien als vor 20 Jahren.
In einer Sprachnachricht schildert Tahir selbst, dass sie sich weder im Haus sicher fühle, noch auf die Straße gehen könne: „Ich habe Angst, wenn ich rausgehe: Ich muss bedeckt sein, und es muss mein Mann, mein Bruder oder mein Vater bei mir sein. Ich darf nicht alleine spazieren gehen.“ Tahir ist allerdings nur mit ihrer Tochter bei der Mutter.
Die kleine Yasemin sei völlig verängstigt und habe wegen der Knall- und Schussgeräusche gefragt, ob man in Kabul jetzt Silvester feiere – und wann das endlich vorbei sei. Dabei ahne das Mädchen nicht mal, dass es wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit selbst bedroht ist. Doch die Mutter nimmt die Drohungen der Taliban ernst: „Das sind keine Menschen: Die töten Kinder!“
Am Donnerstag sollte Yasemin in Essen eingeschult werden
In ihrer Verzweiflung fuhr Sonia M. Tahir am Montag (16. August) zum Flughafen Kabul – mit einem Flugticket: „Ich hatte ein Visum, einen Pass, ich hatte alles. Ich dachte, ich kann nach Deutschland fliegen.“ Doch ihr Flug sollte nicht abheben. „Ich konnte nicht weg: Alle wollen raus, weil sie Angst vor den Taliban haben.“ Die Nachricht der 29-Jährigen, die erst beherrscht spricht, endet mit gebrochener Stimme: „In den Straßen liegen tote Menschen, tote Köpfe… Keiner will hier bleiben, weil alle leben wollen.“
- Mehr zur Lage in Afghanistan lesen Sie hier in unserem Newsblog.
In Essen bangen Christiane Beyrich und ihre Kollegen darum, Sonia M. Tahir und ihre Tochter lebend wieder zu sehen. „Da muss doch die deutsche Regierung endlich etwas tun“, fordert sie. Sie geben die Hoffnung nicht auf, dass ihre Kollegin bei den Evakuierungen dabei sein könnte, die am Dienstag (17. 8.) begonnen haben. Für die sechsjährige Yasemin haben sie einen Schultornister, Stifte, Wasserfarben, Hefte gekauft, das alles liegt in der Praxis bereit: „Sie sollte doch am Donnerstag eingeschult werden.“
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