Essen. Sie haben Schüsse und Todesangst erlebt, nun ist ihr Alptraum vorbei: Familie Akhonzada ist wohlbehalten in Essen. So gelang ihnen die Flucht.

In der ersten Nacht in Essen ist Qais Akhonzada mehrmals aufgewacht: „Ich habe gedacht, ich träume nur, dass ich wieder hier bin.“ Dabei ist für den 36 Jahre alten Essener am Dienstag (24. August) ein Alptraum zu Ende gegangen: Er ist endlich mit seiner Frau Wagma und den Kinder Mariam (2) und Suleiman (drei Wochen) in Frankfurt gelandet. Tagelang hatte er mit wachsender Verzweiflung versucht, mit seiner Familie in den Flughafen Kabul gelangen, um von dort mit der Bundeswehr nach Deutschland ausgeflogen zu werden. Sie bangten um ihr Baby, wurden bedroht und beschossen.

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Qais ist schon im Jahr 2001 mit seinen Eltern nach Deutschland eingereist, hat längst einen deutschen Pass. Seit Jahren bemüht er sich, dass auch seine Frau mit der kleinen Tochter nach Essen kommen darf. Im Mai rückte die Familienzusammenführung näher: Das Visum für Wagma und der Kinderreisepass lagen in der deutschen Botschaft bereit, die ihren Sitz jedoch nicht mehr in Kabul hat, sondern im pakistanischen Islamabad. „Ich weiß, dass Afghanistan kein Urlaubsland ist. Ich bin im Mai nur nach Kabul gereist, um mit meiner Familie nach Pakistan zu fliegen und weiter nach Deutschland.“

Was wie Rettung klang, entpuppte sich als Desaster

Vor Ort musste er erst feststellen, dass der Flug nach Pakistan viel zu teuer war, dann durfte seine hochschwangere Frau nicht mehr fliegen, schließlich war auch eine Autofahrt ins Nachbarland unmöglich: „Wir wären nicht über die Grenze gekommen“, sagt Qais Akhonzada. „Und dann kam die Machtübernahme der Taliban“, ergänzt seine frühere Chefin Christine Kreutz, die die Familie von Essen aus unterstützte und die Geschehnisse mit Schrecken verfolgte. Am 14. August habe sie bis tief in die Nacht mit Qais Nachrichten ausgetauscht. Er schickte ihr Fotos von den Papieren der Familie, sie registrierte ihn auf der Liste des Auswärtigen Amtes.

Bald forderte das Amt die Familie auf, zum Nordeingang des Flughafens Kabul zu kommen, von dort könne sie in die Obhut der Bundeswehr gelangen und ausgeflogen werden. Was wie die Rettung klang, entpuppte sich als Desaster: Qais wurde von der Menge am Flughafen verschluckt, streckte vergeblich seinen Pass in die Höhe, rief Soldaten auf Englisch zu: „Ich bin Deutscher.“ Er wurde ignoriert, es fielen Schüsse. Er gab auf, fragte sich, wie er sich mit seiner Frau, der kleinen Mariam und dem Sohn, der sieben Wochen zu früh auf die Welt gekommen ist, noch einmal in diese Gefahr begeben könne.

Taliban peitschen kleinem Jungen ins Gesicht

Wohlbehalten gelandet: Familie Akhonzada kam am 24. August 2021 am Flughafen Frankfurt an. Gleichzeitig landete auch ein Cousin (r.)
Wohlbehalten gelandet: Familie Akhonzada kam am 24. August 2021 am Flughafen Frankfurt an. Gleichzeitig landete auch ein Cousin (r.) © Christine Kreutz

Doch er sollte es in den nächsten Tagen immer wieder versuchen: Vorn die Soldaten, die Warnschüsse abgaben, um die anschwellende Menschenmenge zu vertreiben, „hinten die Taliban, die hinter uns schossen“. Weil die Islamisten längst den Haupteingang des Flughafens versperrt hatten, drängten auch Tausende Afghanen zum Nordeingang, die keinerlei Chance hatten, ausgeflogen zu werden.

Immer wieder kehrte die Familie zu Verwandten zurück, um sich zu stärken, in Sicherheit zu sein. Am Ende aber campierten sie auf dem Flughafen, um bloß nicht den Moment zu verpassen, an dem sich das Tor am Nordeingang für sie öffnen sollten. „Wir wurden nachts von Tränengas beschossen, hatten Angst um das Baby.“ Sie hätten auch Taliban gesehen, die von Pritschenwagen mit Peitschen in die Menge schlugen: „Ein kleiner Junge wurde im Gesicht getroffen. Ich kann nicht vergessen, wie der Vater mit dem blutenden Kind weglief. Ich dachte: Das könnte Deine Tochter sein.“

Die meisten Essener sind nun aus Afghanistan zurückgekehrt

Am Mittwoch (17. August) landete zunächst die Essenerin Sonia T. mit ihrer kleinen Tochter in Frankfurt. Das Team ihrer Essener Zahnarztpraxis hatte sich mit viel Engagement für sie eingesetzt.

Am Dienstag (24. August) kam Qais Akhonzada mit seiner Frau und den beiden Kindern an. Neben Christine Kreutz hatte sich auch die TV-Journalistin Anne Gaffron für die Familie eingesetzt. Am Mittwoch (25. August) kehrte auch die sechsköpfige Familie Ataie wohlbehalten zurück. Eine Essener Freundin, die nicht namentlich genannt werden möchte, hatte die Ataies von hier unterstützt.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer, der sich in allen Fällen engagierte, sagt, das aktuell noch eine fünfköpfige Essener Familie mit deutscher Staatsangehörigkeit in Kabul festsitze. Ihre Rückreise gestaltet sich angesichts der eskalierenden Lage am Airport schwierig.

Qais Akhonzada hat in diesen Tagen Soldaten aus zig Nationen angefleht, doch sie hörten ihn nicht oder sagten, sie seien für Deutsche nicht zuständig. Nur bekam er keinen der 80 Bundeswehrsoldaten vor Ort zu Gesicht. Schließlich hörte er von einem Nebeneingang zum Flughafen, an dem man näher an die Militärs herankomme. Auf einem Videoclip zeigt er die bizarre Szenerie: In einem Graben stehen Menschen knietief im Abwasser, über ihnen die Soldaten: hinter Nato-Stacheldraht, aber in Rufweite.

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Fünf Stunden hat er zuletzt in diesem Graben gestanden, am Montag (23. August) von sechs bis elf Uhr. Von hier kam er endlich ins Flughafengebäude. „Als ich die deutsche Flagge und einen Bundeswehrsoldaten sah, wusste ich: Ich bin gerettet.“ Um auf sich aufmerksam zu machen, rief er nicht wie alle anderen um Hilfe, sondern „Grüß Gott, mein Freund!“ Sofort sei der Soldat auf ihn zugekommen, habe ihn aus dem Graben gezogen. Kurz darauf konnte er seine Familie nachholen: seine Frau auf den Schultern, seine Tochter im Arm; „ein Kollege“ trug das Baby.

Sie kommen ohne Gepäck an, aber voller Dankbarkeit

Einen Tag und eine Zwischenlandung in Usbekistan später landen sie in Frankfurt: Ohne Gepäck und mit dem Geruch des Abwassergrabens, wie Christine Kreutz erzählt. Sie haben keine Kinderkleidung, der Pass der Tochter liegt in Islamabad, der Sohn hat gar keine Papiere. Als der Vater Videoclips vom Flughafen Kabul zeigt und Schüsse fallen, sagt Mariam: „Mach das aus, Papa.“ Sie werden Zeit brauchen, um hier anzukommen, aber im Moment ist Qais A. nur dankbar, wieder zu Hause zu sein, in Essen-Borbeck.