Essen. Nach 231 Tagen schließt Essens Impfzentrum in der Messe am Sonntag seine Pforten. Was der Ärztliche Leiter Dr. Stefan Steinmetz dort gelernt hat.

Siebeneinhalb Monate nach dem verschneiten und mangels Impfstoff auch eher holprigen Start Anfang Februar macht das Essener Impfzentrum in Messehalle 4 nun dicht. Zeit für den Ärztlichen Leiter Dr. Stefan Steinmetz, Bilanz zu ziehen.

Herr Dr. Steinmetz, am Sonntag ist Feierabend im Impfzentrum. Sind Sie nach 231 Tagen als Ärztlicher Leiter am Ende dort angekommen, wo sie zum Start Anfang Februar hin wollten?

Ich finde jedenfalls, wir haben einen guten Job gemacht. Wir waren ja selber gespannt, was da auf uns zukommt. Angesichts der Pandemie wollten wir die Impfungen möglichst schnell durchkriegen, ich dachte, wir sind im Mai oder Juni hier fertig und können das dann wieder den Hausärzten überlassen. Aber dann kam das Problem mit dem fehlenden Impfstoff. Ich hätte nicht gedacht, dass wir bis Ende September hier weitermachen. Und ob das die niedergelassenen Kollegen alleine so hätten stemmen können, stelle ich im Nachhinein in Frage.

Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein hat im Impfzentrum 244.551 Erstimpfungen gezählt – und 207.228 Folgeimpfungen. Beeindruckend.

Schon beim Probelauf Mitte Dezember bereitete sich das Impfzentrum auf ernstere Zwischenfälle vor. Doch die waren letztlich extrem selten.
Schon beim Probelauf Mitte Dezember bereitete sich das Impfzentrum auf ernstere Zwischenfälle vor. Doch die waren letztlich extrem selten. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Und das ohne nennenswerte Zwischenfälle: Wir haben nur ein paar Kreislauf-Kollapse registriert und zwei beginnende Anaphylaxien (das sind starke akute allergische Reaktionen), die wir aber gut beherrschen konnten. Man kann ohne weiteres eine positive Bilanz ziehen, auch was die Zusammenarbeit zwischen Stadt, Feuerwehr und Ärztlicher Leitung angeht. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt.

„Ich habe gelernt, dass das offene Wort nicht immer ganz geschätzt wird“

Und in dieser Zeit was bitte über Politik gelernt?

Dass es gut war, dass ich nie in die Politik gegangen bin. Diese Lebenserfahrung musste ich nicht haben.

Weil?

Sagen wir es so: Ich habe gelernt, dass das offene Wort nicht immer ganz geschätzt wird, dass man immer abwägen muss und nicht klar Stellung bezieht. Dadurch habe ich mich ja, glaube ich, gerade am Anfang ausgezeichnet: indem ich klar und deutlich Stellung bezogen, pragmatisch gehandelt und Verantwortung übernommen habe, ganz bewusst. Ich habe immer klare Kante gezeigt. auch Ihnen von den Medien gegenüber. Mein letzter „schlimmer“ Satz hier war der, dass ich es blöd finde, wenn das Impfzentrum jetzt Montag und Dienstag zu hat. Weil ich meinte, wir haben noch den Bedarf zu impfen. das kam eher negativ an. Genau wie meine Meinung zur Kinderimpfung...

…...wo sie die Traute hatten, sich selbst zu korrigieren.

Genau, natürlich.

Natürlich? Aus der Politik kennt man das nicht unbedingt.

Aber das hätte ich manchmal erwartet. Dass man erst sagt: Okay, so machen wir’s jetzt. Ich stehe dazu. Und wenn ich dann morgen sehe, dass die Lage sich doch anders entwickelt, dann habe ich mich eben geirrt.

Wie John Maynard Keynes schon gesagt hat: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung.“

Genau. So war das bei der Kinderimpfung. Oder als ich stillende Mütter nicht habe impfen lassen, das hat mir sogar eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingebracht. Ich habe damals gesagt: Nein, das Risiko ist mir zu hoch und habe die wieder nach Hause geschickt. Bei den Schwangeren haben wir uns ebenso verhalten – und das hinterher korrigiert. Auch bei den Kindern haben wir unsere Haltung angepasst, wenn die Studien das hergaben. Und ich habe Fehler eingestanden: Okay, dieses Oster-Desaster ist eben passiert.

„Dieser Egoismus, dieser Impfneid, die Impfdrängler und Impfbetrüger – schlimm“

Sie meinen die stundenlangen Wartezeiten in der Impfschlange.

Woraufhin die Politik entschieden hat, eine weitere Halle anzumieten. Dabei habe ich die nie gebraucht. Sei’s drum, die Feuerwehr hat das Hausrecht, die Politik das Sagen und wir haben unsere ärztliche Pflicht getan.

Und was haben Sie in dieser Zeit über die Menschen gelernt, was sie vorher noch nicht wussten?

Ein Ansturm Impfwilliger, auf die man im Impfzentrum nicht vorbereitet war, bescherte der Einrichtung das „Oster-Desaster“ – mit stundenlangen Wartezeiten.
Ein Ansturm Impfwilliger, auf die man im Impfzentrum nicht vorbereitet war, bescherte der Einrichtung das „Oster-Desaster“ – mit stundenlangen Wartezeiten. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Ich kannte aus ärztlicher Sicht eigentlich alles, von der Geburt bis zum Sterben und all das dazwischen. Was hier schlimm war und für mich neu, das war die Priorisierung, der Egoismus, dieser Impfneid, die Impfdrängler und Impfbetrüger. Gemessen an der Zahl derer, die sich hier als Pflegebetreuer ausgegeben haben, kann ich behaupten: Jeder Pflegepatient in Deutschland muss wohl mindestens fünf Pflegepersonen haben, die sich aufopferungsvoll kümmern.

Konnte man Sie mit dieser Erkenntnis noch enttäuschen?

Durchaus, vielleicht aufgrund der Härte, mit der das hier vorgetragen wurde. Das war teilweise schon extrem, etwa mit „Beweisfotos“, die von mir nach dem Motto gemacht wurden: „Wenn Sie mich jetzt nicht impfen, mache ich Sie persönlich dafür haftbar, wenn meine Mutter stirbt, weil ich sie angesteckt habe.“ Oder die Nachrichten, die bei mir zu Hause in den Briefkasten eingeworfen wurden: „Ich bin doch jetzt dran! Ich muss geimpft werden! Unverschämtheit!“ Dazu fadenscheinige Argumente und Atteste, die so offensichtlich falsch waren, dass man darüber nur den Kopf hat schütteln können. Auch teilweise über Arzt-Kollegen, dass die sich dazu haben breitschlagen lassen.

Und Ihre Reaktion? Blieb es beim Seufzen und Kopfschütteln, oder konnte Sie sowas auch richtig empören?

Das kann mich auch empören, ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Und ich gebe zu: Ich habe da in der Hochphase auch nächtelang schlecht geschlafen, weil man doch alles ordentlich und gerecht machen will – das muss dieses Helfersyndrom als Arzt sein. Aber man kann es eben nicht allen recht machen. So wie wenn man einen Tag in der Praxis sitzt und 150 Patienten zählt. Mit 149 kommt man gut klar, und dann ist ein Doofkopp dabei, und den Ärger mit ihm trägt man nach Hause, wo er einem den ganzen Tag kaputt macht.

„Impfen ist nicht nur eine persönliche Sache, sondern eine Frage der Solidarität“

Dabei ist die Quote doch mehr als akzeptabel.

Das war sie auch hier, das muss ich sagen: Wir haben überwiegend dankbare Patienten gehabt, freundliche Kommentare, nette Briefe. Und der Oberbürgermeister meinte: Es ist noch nie eine städtische Einrichtung so positiv angenommen worden wie das Impfzentrum. Das Team war gut und die Stimmung auch.

Dennoch: Mal hatten Sie hier zu wenig Impfstoff, jetzt liegt der Kühlschrank voll. Mal gab es „volles Haus“, mal „tote Hose“. Und wenn Sie sich umdrehen, sind doch mehr Patienten da, als unsereins geglaubt hätte. Fragen Sie sich auch: warum erst jetzt?

Ich frage nicht nur mich, ich frage auch die Leute selbst. „Wieso sind Sie denn nicht früher gekommen?“

Und?

Die Antworten sind unterschiedlich. Viele sagen: Na ja, ich habe keine Zeit gehabt.

Trotz sieben Öffnungstagen pro Woche über lange Zeit...

...und zwar von morgens bis abends. Andere räumen ein: Ich komme jetzt, weil mir der Druck zu groß wird. Ich will meine Tests nicht selber bezahlen.

Zur Person: Dr. Stefan Steinmetz

Mit Dr. Stefan Steinmetz hatte ein erfahrener Medizinier die Ärztliche Leitung des Impfzentrums unter seinen Fittichen: Von Haus aus Internist und Sport- und Ernährungsmediziner betrieb Steinmetz 33 Jahre lang eine eigene Hausarzt-Praxis an der Bockmühle in Altendorf; vorher war er fast zehn Jahre am (inzwischen längst geschlossenen) Bethesda-Krankenhaus in Bochold tätig. Seine Praxis hat er längst in jüngere Hände gegeben, doch Ruhestand ist für den 71-jährigen Schönebecker nach wie vor ein Fremdwort: Steinmetz ist unter anderem weiter als Konsiliararzt für die Forensische Klinik in Holsterhausen tätig und zudem als Gutachter für die Pflegeversicherung.

Verstehen Sie den Drang der Politik, den Druck auf die Ungeimpften zu erhöhen?

Ja, absolut. Ich stehe voll dahinter. Ich denke, das Impfen ist nicht nur eine persönliche Sache, sondern war schon immer eine Frage der Solidarität. Das ist bei der Grippe, bei Masern, Mumps oder Röteln auch so. Ein Impfgegner unter 99 Geimpften hat gut reden: „Na siehste, ich krieg ja nichts.“ Ich verstehe, wenn ein junger Mensch am Anfang nicht gleich auf den Zug aufspringt, wenn er in Sorge ist, einverstanden. Ich akzeptiere auch, wenn einer sagt: Ich will mich auf keinen Fall impfen lassen, ich ziehe mich lieber zurück, gehe ein Jahr auf mein Zimmer und lass mir mein Essen bringen. Aber nach neun Monaten zu sagen: Ich warte mal weiter ab, wegen der Nebenwirkungen, die da womöglich kommen und dann werden alle sterben – na ja. Wir brauchen das Vertrauen in die Wissenschaft. Stattdessen führe ich diese Diskussion selbst hier im Impfzentrum.

„Keine Lohnfortzahlung für Ungeimpfte – das IST die Impfpflicht durch die Hintertür“

Es gibt Mitarbeiter dort, die sich nicht haben impfen lassen?

In der Tat. Ich habe gesagt, dass ich das nicht gut finde, und nach solchen Konfrontationen fühlen sich manche auch gemobbt durch mich. Aber arbeitsrechtlich gibt es keine Handhabe.

Der höhere Druck durch verweigerte Lohnfortzahlungen, wenn ich mich als Ungeimpfter angesteckt habe und in Quarantäne muss – auch das tragen sie mit?

Aber ja.

Das hat aber was von einer Impfpflicht durch die Hintertür.

Sagen Sie’s ruhig. Das IST die Impfpflicht durch die Hintertür. Wir sind nun mal in einer Pandemie, da muss man an die Gesamtbevölkerung denken.

Dumm nur, dass die Politik vorher eine Impfpflicht ausdrücklich ausgeschlossen hat. War sie da taktisch schlecht beraten, eine Zusage zu machen, die sie nun nicht mehr einhalten kann oder will?

Das sehe ich so, ja klar. Man hätte früher klare Kante zeigen sollen. Wobei ich auch sagen muss: Diese absoluten Impfverweigerer, wie groß ihr Anteil auch immer sein mag, ob nun bei fünf oder zehn Prozent – mit denen zu diskutieren lohnt nicht.

Wenn Sie das Impfzentrum am Sonntag räumen, geht die Kampagne weiter. Was schätzen Sie, bei welcher Impfquote werden wir letztlich landen?

Je nachdem, wie man rechnet: Wenn wir die Kinder bis zwölf Jahren, die nicht geimpft werden dürfen, herausrechnet, dann schaffen wir am Ende wohl die 90 Prozent.

Sie haben den Weg dorthin mitorganisiert. Überwiegt die Erleichterung, dass es vorbei ist?

Ach, es ist ja nur zu menschlich, dass man im Nachhinein über das Erlebte ohnehin eher positiv denkt. Es war eine positive Lebenserfahrung, es hat noch mal Freude gemacht. Jetzt ist aber auch gut so.