Essen. Der „Klimaentscheid Essen“ sieht bei der Klimaneutralität keinen Spielraum. Die Stadt will sich nicht festlegen. Welche Gründe sie dafür hat.

Vor der Sitzung des Essener Stadtrates am Mittwoch, 25. August, fordern Klimaschutz-Aktivisten die im Rat vertretenen Parteien eindringlich auf, jetzt „unverzichtbar für den Klimaschutz einzustehen“. Es gebe keinen Spielraum mehr, will man verhindern, dass die Erderwärmung über die kritische Marke von 1,5 Grad steigt, heißt es in einer Stellungnahme des „Klimaentscheids Essen“.

Die Stadt muss nach Überzeugung der Klima-Aktivisten deshalb alles dafür tun, um den Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen bereits bis zum Jahr 2030 rechnerisch auf null herabzusenken und damit „klimaneutral“ zu werden. Andernfalls sei das 1,5-Grad-Ziel nicht zu erreichen.

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Erst im August vergangenen Jahres hatte der Rat das Jahr 2050 als Zielmarke für die sogenannte Klimaneutralität formuliert. Der Beschluss orientierte sich an der Klimapolitik des Bundes. Doch inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht dem Bund zur Auflage gemacht, die Anstrengungen für den Klimaschutz zu erhöhen.

Klimaneutralität erst 2050: Essener Stadtrat wird seinen Beschluss von 2020 korrigieren?

Vor diesem Hintergrund soll der Stadtrat seinen Beschluss von 2020 korrigieren, und die Absenkung des Treibhausgasausstoßes „an einen neuen Zielkorridor“ anpassen, wie es in dem Beschlussvorschlag heißt, der am Mittwoch zur Abstimmung steht. Dass im Rat eine deutliche Mehrheit zustimmen wird, darf als sicher gelten.

Ein konkretes Jahr, bis zu dem Essen die Klimaneutralität erreichen soll, nennt die Verwaltung allerdings nicht. Der „Zielkorridor“ liege zwischen 2030 und 2040. Dies sei mit dem Pariser Klimaschutzabkommen von Paris vereinbar.

In Paris hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet dazu beizutragen, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf unter zwei Grad Celsius zu beschränken, alle Anstrengungen seien zu unternehmen, damit die Temperatur maximal um 1,5 Grad steigt. Klimaneutralität erst bis 2040 hieße, einen globalen Temperaturanstieg um 1,75 Grad in Kauf zu nehmen.

Investitionen in den Klimaschutz machen sich laut Rechnung der Verwaltung bezahlt

Der Vorschlag der Verwaltung täusche eine Spielraum vor, den es nicht mehr gebe, kritisiert der „Klimaentscheid Essen“. Die Initiative verweist auf Überflutungen und Hitzerekorde und warnt vor nicht wieder gut zu machenden Schäden für Mensch und Umwelt sowie vor Kosten in Milliardenhöhe.

Tatsächlich mache sich Klimaschutz bezahlt, die Verwaltung macht dazu folgende Rechnung: Will Essen klimaneutral werden, wären dafür Investitionen in Höhe von 12,5 Milliarden Euro notwendig, unter anderem in die energetische Sanierung von Gebäuden und den Ausbau des öffentlichen Personen-Nahverkehrs.

Dem gegenüber stünden Kosten in Milliardenhöhe, die andernfalls für die Beseitigung von Schäden aufgewendet müssten, die der Klimawandel verursacht. Erreicht Essen die Klimaneutralität bis 2040 ließen sich Kosten für die Beseitigung von Folgeschäden in Höhe von 7,8 Milliarden vermeiden, wird Essen schon 2030 klimaneutral wären es sogar 11,5 Milliarden Euro, heißt es. Um welche Schäden es sich konkret handelt, lässt die Verwaltung offen.

Investitionen schaffen rechnerisch 4000 Arbeitsplätze

Auf den ersten Blick wären die finanziellen Aufwendungen für den Klimaschutz noch immer höher als die Einsparungen. Allerdings würden auch Unternehmen und Handwerk von Investitionen in den Klimaschutz profitieren. Laut Verwaltung summiert sich die regionale Wertschöpfung auf sechs Milliarden Euro. Daraus ergäben sich rechnerisch 4000 Arbeitsplätze und Einnahmen für die Stadtkasse in Höhe von 80 Millionen Euro.

Das Treibhausgas-Budget

Die Stadtverwaltung plant die Klimaschutzziele auf Grundlage eines CO2-Budgets, das sie aus dem Pariser Klimaschutzabkommen ableitet. Der Ausstoß an Kohlendioxid (CO2) gilt als hauptverantwortlich für den Klimawandel. Um die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad zu beschränken, dürfen pro Kopf noch 47,1 Tonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben werden. Liegt das Ziel bei maximal 1,75 Grad beträgt das Pro-Kopf-Budget 79,5 Tonnen. Ist das Budget erschöpft, die Klimaneutralität aber noch nicht erreicht, steigt die Erderwärmung über das gesetzte Ziel hinaus.

Damit die Stadt Essen die Klimaneutralität erreicht, müsste der jährliche Treibhausgasausstoß um rund vier Millionen Tonnen gesenkt werden.

Vermeidbare Belastungen – etwa des Gesundheitssystems sowie indirekte Kosten für Unternehmen und von Klimafolgen betroffene Bürger und Bürgerinnen – bleiben dabei sogar unerwähnt, die Kostenschätzung sei deshalb unvollständig, kritisiert der „Klimaentscheid Essen“. Gleichwohl bestätige die Rechnung: „Klimaneutralität bis 2030 ist deutlich günstiger als spätere Klimaneutralität.“

Warum legt die Verwaltung dem Rat also nicht das Jahr 2030 als Klimaziel nahe? „Der Rat kann nicht einfach sagen: Wir schaffen das“, gibt Kai Lipsius von der Grünen Hauptstadtagentur der Stadt Essen zu bedenken. Die Stadt sei nur ein Akteur. Auch Wirtschaft und Privathaushalte müssten mehr für den Klimaschutz tun.

Gegen allzu ambitionierte Ziele sprächen auch praktische Fragen, zum Beispiel bei der energetischen Sanierung des Gebäudebestandes. Jedes Jahr müssten acht Prozent der Gebäude saniert werden. „Woher sollen all die Handwerker kommen, woher das Material?“, fragt Lipsius.

Die Stadt will der Politik nun bis zum Jahresende konkrete Vorschläge unterbreiten, was sie zur Senkung des Treibhausgasausstoßes tun will.