Essen. Schornsteinmaurer haben auf der Kokerei Zollverein den letzten von 250.000 Steinen gesetzt. Wie sich ihr Job hoch über Essen anfühlt.

Mehr als 250.000 rostrote Ziegelsteine haben sie in den vergangenen anderthalb Jahren auf dem Gelände der Kokerei Zollverein akkurat aufeinandergesetzt: Schicht für Schicht, bei fast jedem Wind und Wetter. Nun endlich ist das Ziel in 80 Metern Höhe erreicht. Hoch über Stoppenberg und Katernberg drückt Schornsteinbauer Jörg Mende am Mittwochmittag den letzten Stein des Kokerei-Schornsteins Nummer 4 ins breite Mauerwerk – mit feierlichem Richtspruch, zersplittertem Schnapsglas und vielen heiteren Mienen.

Um kurz nach halb eins setzt sich der Aufzug, der zugleich Arbeitsbühne ist, langsam in Bewegung. Gut zehn Minuten dauert die Fahrt durch das Schornstein-Innere. Unten hat er einen Durchmesser von 6,25 Meter, bis zur Spitze wird er sich auf 3,80 Meter verjüngen. Allenfalls Außenstehende mögen diese Fahrt als aufregend empfinden, für das Maurerteam ist es Alltag. Sie haben das zeitaufwendige Auf und Ab in den zurückliegenden zwei Jahren mehrmals am Tag absolviert. Immer dabei: „Schloti“. „Unser treues Maskottchen“, lacht Georg Mende, der junge Baustellenleiter. „Schloti“ ist eine selbstgestaltete Skulptur samt Ziegelstein und ein Glücksbringer.

Die Schornsteinbauer sind ein eingespieltes Team. Sie sagen: „Wir können nur rund“

Die fünfköpfige Maurerkolonne ist ein eingespieltes Team, schon seit 14 Jahren arbeiten sie zusammen: auf Baustellen in der ganzen Welt. Da sitzt jeder Handgriff, man versteht sich blind. „Wir können nur rund“, sagt Mende mit einem Augenzwinkern. Radialziegel heißt der Stein, den sie hier in rauen Mengen verbaut haben. Jeder hat eine leichte Krümmung, damit das Ganze später rund wird. Die wichtigste Voraussetzung für ihren Job sei Höhentauglichkeit. Oder in der Maurersprache: „Du musst kopffest sein.“

Aus Sicht der Stiftung Zollverein markiert der letzte Stein den Abschluss der Maurerarbeiten. Alle sechs Kokerei-Schornsteine sind jetzt erfolgreich saniert, alle haben ihre alten Höhen wieder erreicht. „Die sechs Schornsteine prägen die Silhouette der Kokerei Zollverein“, sagt Projektleiter Sebastian Scholz von der Standortentwicklung, der zugleich auf den „außergewöhnlich universellen Wert“ dieses Ensembles hinweist.

Die Fahrt hinauf an die Spitze in 80 Metern Höhe geht durch das Schornstein-Innere. Der Aufzug ist zugleich Arbeitsbühne.
Die Fahrt hinauf an die Spitze in 80 Metern Höhe geht durch das Schornstein-Innere. Der Aufzug ist zugleich Arbeitsbühne. © Unbekannt | Gerd Niewerth

Die imposanten Riesen haben unterschiedliche Höhen. 80 Meter messen die inneren vier, die bereits Anfang der 1960er Jahre in die Höhe gingen. Um 18 Meter werden sie von den beiden äußeren – Baujahr 1971 – überragt.

Sanierung der sechs Kokerei-Riesen hat sieben Millionen Euro gekostet

Sieben Millionen Euro hat die aufwendige Sanierung der Riesen gekostet. Die majestätisch in den blauen Himmel ragenden Riesen platt zu machen, wäre niemandem in den Sinn gekommen. Denkmalschutz und Unesco dringen bei Welterbe-Bauwerken auf präzise Instandhaltung und technische Perfektion. Selbst die schweren Schornsteinbandagen, schmale schwarze Stahlbänder mit Schlössern, dürfen – obwohl nur noch eine Zierde – auf keinen Fall fehlen.

Noch hängen die sogenannten Konsolgerüste am sanierten Kokerei-Schornstein Nummer 4. Darunter verläuft die Bandbrücke.
Noch hängen die sogenannten Konsolgerüste am sanierten Kokerei-Schornstein Nummer 4. Darunter verläuft die Bandbrücke. © Unbekannt | Gerd Niewerth

Beim 60 Jahre alten „Vierer“ war der Sanierungsbedarf besonders hoch. Bis auf minus 2,60 Meter – also Oberkante Fundament – sei der Koloss abgetragen und danach sorgfältig wieder aufgebaut worden. „Wenn der Mörtel zerbröselt, ist die ganze Statik in Gefahr“, sagt Scholz. Allein für „Nummer vier“ musste der zuständige Regionalverband Ruhr ca. 2,4 Millionen Euro hinblättern. Selten habe eine Schornstein-Sanierung so lange gedauert, fügt Friedhelm Heischkamp, Technischer Leiter bei Mende, hinzu. Zwischen Abriss und letztem Stein seien 24 Monate vergangen.

Der Wiederaufbau alter Industrie-Schornsteine ist übrigens nur noch ein Nischenjob für die Mende-Leute. 90 Prozent der neuen Schornsteine sind Giganten aus Stahl. Die Schornstein-Bauer haben sich daher auf den Abriss dieser Riesen spezialisiert, die einst zu Tausenden in den grauen Revier-Himmel ragten. Heute sind sie so etwas wie die Dinos des Industriezeitalters. „In Duisburg brechen wir gerade einen 250 Meter hohen Schornstein bei Thyssen-Krupp ab“, berichtet Heischkamp.

Von der Mischanlage der Kokerei Zollverein fällt der Blick auf die imposante Koksofenbatterie. Parallel dazu steht die Bandbrücke mit den sechs Schornsteinen. Das Bild entstand während der Bauphase im Juli 2020.
Von der Mischanlage der Kokerei Zollverein fällt der Blick auf die imposante Koksofenbatterie. Parallel dazu steht die Bandbrücke mit den sechs Schornsteinen. Das Bild entstand während der Bauphase im Juli 2020. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos