Essen. Aktivisten drängen darauf, dass Essen bis 2030 klimaneutral wird. Dafür müssten jährlich Tausende E-Autos zugelassen werden – und mehr passieren.
Jugendliche Aktivisten der Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ haben vor dem Rathaus ihre Zelte aufgeschlagen. Bis zum 30. Juni wollen sie im Schatten des Verwaltungssitzes eine Mahnwache abhalten, denn dann debattiert der Rat der Stadt über die Klimaschutzpolitik. Die jungen Klimaschützer fordern, dass die Stadt Essen bis 2030 „klimaneutral“ wird und sprechen von einer Jahrhundertentscheidung.
Nein, eine Jahrhundertentscheidung steht noch nicht an, wenn der Rat zusammenkommt. Die Verwaltung schlägt der Politik allerdings vor, die Klimaschutzziele neu zu justieren, ohne sich auf ein konkretes Jahr festzulegen, bis wann die Stadt „klimaneutral“ werden soll. Soviel räumt auch die Verwaltung offen ein: Das aktuelle Ziel 2050 genügt nicht, um die im Pariser Klimaschutzabkommen verabredeten Ziele zu erreichen und die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu beschränken. Klimaschützer sehen die kritische Schwelle bei 1,5 Grad. Diese dürfe nicht überschritten werden, soll das Leben auf der Erde lebenswert bleiben.
Empfehlungen zum Klimaschutz will die Stadt Essen in der zweiten Jahreshälfte vorlegen
Ein Konzept mit konkreten Empfehlungen, was zu tun ist, soll der Rat erst in der zweiten Jahreshälfte verabschieden. Fest steht: Die Stadt Essen steht beim kommunalen Klimaschutz vor einer gigantischen Aufgabe. Ja, die Herausforderung ist so groß, dass Experten hinter vorgehaltener Hand anzweifeln, dass sich diese Aufgabe innerhalb von nicht einmal zehn Jahren überhaupt stemmen ließe. Schon eine Klimaneutralität bis 2040 gilt – vorsichtig formuliert – als extrem ambitioniert.
Der Verwaltung hat dazu Modellrechnungen angestellt: Jeder Essener und jede Essenerin verfügt demnach über ein Budget an klimaschädlichem Kohlendioxid, das aufgebraucht ist, wenn die Stadt Ziel Klimaneutralität erreicht hat. Dann würden nur noch so viele Treibhausgase ausgestoßen wie kompensiert werden. Soll die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden, wäre das Pro-Kopf-Budget innerhalb von nur sechs bis sieben Jahren aufgebraucht. Soviel Zeit hätte die Stadt noch, um die Treibhausgas-Emissionen auf null herabzusenken. Liegt die Ziele-Marke bei 1,75 Grad, würde das Pro-Kopf-Budget für zehn bis elf Jahre reichen. So oder so: Viel Zeit bleibt also nicht.
Seit 2011 stagnieren die Treibhausgas-Emissionen in Essen
Aktuell „produziert“ jeder Essener pro Jahr 7,3 Tonnen an Treibhausgasen durch Energieverbrauch. Seit 1990 ist der Treibhausgasausstoß in Essen zwar deutlich gesunken – um 37,5 Prozent. Seit 2011 aber stagnieren die Emissionen bei etwa vier Millionen Tonnen pro Jahr. Wie will die Stadt da in den nur wenigen verbliebenen Jahren „klimaneutral“ werden? Die Verwaltung hat auch dazu erste Berechnungen angestellt – mit dem Ziel einer Klimaneutralität bis zum Jahr 2040.
Bis dahin müssten 60 bis 80 Prozent der rund 91.000 Wohngebäude in Essen energetisch saniert werden – für geschätzte 5,6 Milliarden Euro. Womit sich nicht nur die Frage stellt, wer das bezahlen soll, sondern wo die vielen Handwerksbetriebe sind, die all die Fassaden und Dächer dämmen sollen.
Bislang fahren in Essen von 360.000 Fahrzeugen nur rund 2500 rein elektrisch
Weitere 1,5 Milliarden Euro wären nötig, um Dächer mit einer Fläche von insgesamt 1000 Hektar mit Solaranlagen auszustatten. Und jedes Jahr müssten 15.000 Elektroautos zugelassen werden zulasten der Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Aktuell fahren von 360.000 in Essen zugelassenen Kraftfahrzeugen gerade einmal 2500 elektrisch.
Nicht zuletzt müsste die Stadt den Modal Split, also die Verteilung des Verkehrs zu je 25 Prozent auf Auto, Fahrrad, Fußgänger und Öffentlichen Nahverkehr, den Essen für 2035 anstrebt, schon fünf Jahre früher erreichen. Die jüngste Mobilitätsumfrage der Stadt aus 2018 hatte zutage gebracht, dass die Essener mehr als die Hälfte ihrer Wege das Auto nutzen. Der Anteil umweltfreundlicherer Verkehrsmittel war im Vergleich zur vorangegangenen Befragung von 2011 sogar leicht gesunken.
Klimaschutzabkommen
Die Stadt Essen hat sich bislang zum Ziel gesetzt, die Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Das Klimaschutzziel von Paris ließe sich damit aber nicht erreichen. Bei der Klimakonferenz in Paris haben sich die Unterzeichnerstaaten 2015 verpflichtet, die Erderwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Angestrebt wird eine Grenze von 1,5 Grad.
Die von der Verwaltung vorgelegten Zahlen machen deutlich, dass es gehöriger Anstrengungen bedarf, um die Klimaneutralität zu erreichen. Dass dies bis 2030 gelingen soll, scheint sogar utopisch. Zumal die Stadt selbst die Klimaneutralität nicht erzwingen kann. Der nach wie vor zu hohe Treibhausgasausstoß zeigt aber auch, dass in der Vergangenheit nicht genug getan wurde für den Klimaschutz.
Klimaschutz-Aktivisten zeigen sich deshalb enttäuscht von dem Papier, das die Verwaltung dem Stadtrat vorgelegt hat. Die Stadt könne sehr wohl mehr tun, in dem sie an den Stellschrauben dreht, die sie in der Hand hat, sagt Petra Boesing, eine der Vertretungsberechtigten des Klimaentscheids Essen. Sei es beim Verkehr oder beim Solardachkataster für öffentliche Gebäude. Die Dringlichkeit sei immer noch nicht erkannt worden.