Essen. Essener Ausstellung „Die unsichtbare Skulptur“ beleuchtet ein unbekanntes Kapitel im Leben von Joseph Beuys. Was ihn ins Ruhrgebiet lockte.

So viel Beuys war wohl nie. Dutzende Museen, mehr als 20 allein in Nordrhein-Westfalen, beschäftigen sich in diesem Jahr mit den vielen Facetten von Joseph Beuys, der am 12. Mai hundert Jahre alt geworden wäre. Auch das Ruhrgebiet macht seine besondere Beziehung zu Beuys offenbar. Auf dem Welterbe Zeche Zollverein präsentiert man den Jahrhundertkünstler unter dem Titel „Die Unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Beuys“ nun als Vordenker gesellschaftlicher und ökologischer Veränderungen im Land von Kohle und Stahl. Von der fossilen Energie zur kulturellen Energie, gewissermaßen.

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Mit Unterstützung des Beuys-Schülers Johannes Stüttgen, der zum Kuratorenteam gehört, wird auch die Erinnerung an Beuys’ legendäre „Freie Internationale Universität“ mit Zweigstellen in Gelsenkirchen und Essen lebendig. Als Arbeitsgemeinschaft am Gelsenkirchener Grillo-Gymnasium gegründet, machten die jungen Aktivisten der „Fluxus Zone West“ den erweiterten Kunstbegriff in den 1970ern zu ihrer Sache und holten Beuys für zahlreiche Aktionen ins Revier.

Beuys war gern zu Gast in der „Kunstbaracke“ des Gelsenkirchener Grillo-Gymnasiums

Denn als Beuys 1972 aus der Düsseldorfer Kunstakademie entlassen wurde, hatte er viel Zeit – vermisste den Kontakt zu jungen Menschen, den er bis dahin beinah täglich in der Akademie hatte. Sein Schüler Johannes Stüttgen war als Kunstlehrer nach Gelsenkirchen gegangen und schuf die Kontakte. Beuys war oft in der „Kunstbaracke“ des Grillo-Gymnasiums zu Gast – und von hier aus wurden auch Beuys’ Documenta-Projekte „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ und „7000 Eichen“ vorbereitet und mitorganisiert. Beuys nutzte die Begeisterungsfähigkeit der Schüler, die spürten, dass im Revier mit dem Niedergang von Kohle und Stahl eine Zwischenzeit der Ungewissheit begonnen hatte, und die aufbrechen wollten, bereit für Neues waren.

Zentrales Thema der Zollverein Schau aber ist die gesellschaftspolitische Bedeutung des Künstlers, sein Engagement in ökologischen Fragen, sein Einsatz für die freie Bildung und Kreativität und sein Kampf für die direkte Demokratie. Für Zollverein Stiftungs-Vorstand und Ausstellungsleiter Theodor Grütter ist es womöglich die politischste Beuys-Betrachtung im Jubiläumsjahr.

Der Omnibus für direkte Demokratie fährt seit über 30 Jahren durchs Land

Johannes Stüttgen und Brigitte Krenkers, in den 1980ern Teilnehmer der legendären Düsseldorfer Ringgespräche, haben seine Forderung nach mehr Mitbestimmung durch Volksabstimmung sogar auf Straße gebracht und steuern den Omnibus für direkte Demokratie seit 1987 durch Deutschland und ganz Europa. Während der Ausstellungszeit werden sie Zollverein immer wieder anfahren. Eines ihrer aktuellen Vorhaben: ein Bürgerrat für Corona.

Berühmt: Die Capri-Batterie von Joseph Beuys. Das Multiple ist eine Leihgabe einer Londoner Privatsammlung.
Berühmt: Die Capri-Batterie von Joseph Beuys. Das Multiple ist eine Leihgabe einer Londoner Privatsammlung. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

So findet die mit rund 250 Exponaten vom Filzanzug bis zur Capri-Batterie prominent bestückte Ausstellung immer wieder Bezüge zur aktuellen politischen Lage. Das Sonnenblumen-Signet etwa, mit der auch die erste grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock 2021 in den Wahlkampf zieht, entstand im unmittelbaren Beuys-Umfeld.

Die politische Karriere des Grünen-Mitbegründers Beuys dauerte jedoch nicht allzu lange. Und doch umkreist die im großen Team konzipierte Schau immer wieder den politischen Impulsgeber und gesellschaftspolitischen Visionär, den Verfechter von Wachstumsgrenzen und den Aktivisten für den Umweltschutz, der schon in den 1970er Jahren erkannt habe, „dass unsere Lebensgrundlage, die Erde in Gefahr ist“, sagt Kuratorin Carla Zimmermann und verweist auf in der Ausstellung dokumentiere Aktionen wie die berühmten „7000 Eichen“ von Kassel, Beuys’ größte soziale Plastik, mit der der gebürtige Niederrheiner auch als Frontmann der heutigen Fridays-for-Future-Bewegung gute Chancen hätte. In einer eigens für die Ausstellung entworfenen Medieninstallation bekommen Werk und Wirken Beuys’ weitere Bezüge zu unserer heutigen Zeit. Zahlreiche Dokumente, Film- und Höreinspielungen und Multiples finden in der erstmals als Ausstellungsraum genutzten Zollvereinhalle 8 ebenfalls ihren Platz.

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Die meterhohen Decken der ehemaligen Kompressorenhalle bieten viel Freiraum für Beuys’ Idee von der Sozialen Plastik, wo das Werk nicht mehr das Objekt im Museum ist, sondern der Prozess, die Aktion, die Idee einer neuen Gesellschaft. Und so wird die eigentlich ja unmögliche Präsentation der „unsichtbaren Skulptur“ auch zur reizvollen Einladung für das Publikum, ganz im Sinne von Joseph Beuys selbst zum Gestalter einer nachhaltigen Gesellschaft zu werden: Jeder Mensch ein Künstler.

Die Unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys. läuft bis zum 26. September, Halle 8, Zollverein. Täglich 10 bis 18 Uhr.

Eröffnet wird die Schau am 9. Mai, 17 Uhr, zunächst virtuell (www.zollverein.de/eroeffnung-beuys). Analog zu sehen ist sie, sobald die Infektionszahlen das wieder zulassen.