Essen. Der Künstler Gunter Demnig hat in Essen 20 neue Stolpersteine für Menschen verlegt, die von den Nazis getötet wurden oder vor ihnen flohen.
Er hatte das Helmholtz-Gymnasium besucht und Medizin studiert, doch die Prüfung durfte Kurt Stiefel schon nicht mehr ablegen, weil er Jude war. 1944 wurde er in Auschwitz ermordet. An sein Schicksal erinnert einer der 20 Stolpersteine, die der Künstler Gunter Demnig vor kurzem in Essen verlegt hat. Auf dieser Doppelseite werden sein Schicksal und das der weiteren Opfer geschildert, denen die Steine gewidmet sind.
Dass für Kurt Stiefel ein Gedenkort an dem Rüttenscheider Gymnasium geschaffen wurde, geht vor allem auf die Initiative der Vielfalts-AG zurück, die der Geschichtslehrer Semir Badrani leitet.
Die Arbeitsgemeinschaft hat sich mit der Geschichte der Schule befasst und stellte fest, dass zu Zeiten der Weimarer Republik (1918-1933) der Anteil jüdischer Schüler mit zehn Prozent im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hoch war. Das Gymnasium war bei vielen jüdischen Familien sehr beliebt, es galt für die damalige Zeit als sehr liberal, heißt es in der Schulchronik. So besuchte auch Kurt Stiefel die Schule, studierte anschließend in Würzburg, München und Freiburg Medizin, wie die beiden Schülerinnen Malina Britz und Fiona Herwig aus der neunten Jahrgangsstufe herausfanden. Bei der Verlegung des Stolpersteins erinnerten sie an sein Schicksal und das seiner Familie.
Nachfahren der Opfer gingen auf viele Fragen der Schüler ein
Da Kurt Stiefel seinen Beruf nicht ausüben durfte, trat er in das Einzelhandelsgeschäft seiner Mutter ein. Im Oktober 1941, vier Tage nach seiner Hochzeit mit der aus Düsseldorf stammenden Hannelore Pels, wurden er, seine Frau und seine Mutter Berta ins Ghetto Lodz/Litzmannstadt deportiert. Im August 1944 wurde er nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Für seine Frau und seine Mutter führte der letzte Weg ins Vernichtungslager Chelmno/Kulmhof, wo sie 1942 bzw. 1944 umgebracht wurden.
Dem ersten Stolperstein an dem Rüttenscheider Gymnasium „sollen noch weitere folgen, um auch der anderen jüdischen Schüler zu gedenken, die Opfer des NS-Regimes wurden“, erklärt Semir Badrani.
Der Wunsch danach sei auch während einer Gesprächsrunde im Anschluss an die Stolpersteinaktion mit Nachfahren der jüdischen Familie Grünwald geäußert worden. Sie wohnte an der Steinhausenstraße in Holsterhausen und flüchtete vor den Nazis. Dass sie in Deutschland nicht bleiben konnten, habe für ihre Eltern, Hanna und Fritz Grünwald, schon kurz nach der Machtergreifung festgestanden, berichtete ihre Tochter Renate Pfromm vor mehreren hundert Schülern. Ihre Mutter habe ihr erzählt, dass der Opa bereits 1933 in Haft saß. Er hatte zu Ende der Weimarer Republik pöbelnde Nazis angezeigt. Der Onkel habe seine Lizenz als Anwalt verloren, der Vater, von Beruf Kaufmann, alle seine Handelsvertretungen. Mehrere Versuche der Familie auszuwandern, seien zunächst gescheitert. Erst 1938 sollte es dem Paar mit ihrer damals zweijährigen Tochter Renate gelingen, nach Argentinien zu fliehen.
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Dabei müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Denn um ein Haar hätten Eltern und Kind das Schiff im Hafen von Antwerpen mit dem Ziel Südamerika noch verpasst. Doch alles ging gut, das Paar baute sich eine neue Existenz auf, Kontakte zu Deutschland blieben trotz allem bestehen. Einen Groll habe ihre Mutter, die 2005 verstarb, nie empfunden. Sie habe sogar nach dem Krieg Care-Pakete an Not leidende Menschen verschickt, von denen sie wusste, dass sie die Nazis nicht unterstützt hatten, so Renate Pfromm. Die Tochter kam zum Studium nach Deutschland, heiratete, gründete hier eine Familie und ergriff mit ihrer Schwiegertochter, der Journalistin Corinna Below, die Initiative für die Stolpersteine. „Damit die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht in Vergessenheit gerät“, betonen beide.
Für Below war der Kontakt zu ihrer Schwiegeroma Hanna Grünwald der Beginn eines aufwendigen Reportageprojektes. Darin schildert sie das Schicksal von insgesamt 49 jüdischen Deutschen, die nach Argentinien ins Exil gegangen sind.
Auch wenn Hanna Grünwald fast sieben Jahrzehnte in Südamerika gelebt habe, in ihrem Herzen und ihrem gesamten Lebensstil sei sie immer Deutsche geblieben. Ihr Mann, im Rheinland aufgewachsen, habe zudem das Naturell der Essener Bevölkerung sehr geschätzt, sagt die Journalistin.
Wie Familie Grünwald so sahen auch Angehörige der Familie Finger keine Zukunft mehr in Deutschland. Ebenfalls im Herbst 1938 ergriffen sie die Flucht. Ihr Ziel waren die USA. Die Familie lebte an der Emmastraße in Rüttenscheid, stammte ursprünglich aus Czernowitz, das im 19. Jahrhundert zu Österreich-Ungarn gehörte und heute in der Westukraine liegt. Aufgrund der wirtschaftlicher Krisen verließen viele Juden Osteuropa, so auch Hermann Finger, später von Beruf Architekt. Er war seit 1911 freiberuflich tätig und eröffnete 1927 ein eigenes Büro. Zahlreiche Geschäftsleute betrauten ihn mit Um- und Neubauten.
Der Vater war für die Flucht zu gebrechlich
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Finger stand zudem mit an der Spitze der jüdischen Synagogengemeinde und bemühte sich seit 1937 um die Ausreise in die Staaten. Die Flucht mit seiner Frau Anna und ihren drei Kindern Ruth, Manfred und Edmund gelang ihm schließlich im August des nächsten Jahres, wenige Wochen vor der Reichspogromnacht am 9. November 1938.
In der Alten Synagoge befindet sich heute ein Notizbuch von Hermann Finger, der 1979 in New York starb. Eine Enkelin hat es vor zwei Jahren der Gedenkstätte übergeben.
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Vor der Flucht nach Amerika stand für die Familie eine Entscheidung an, bei der man nur erahnen kann, wie es ihr dabei ergangen ist: Der 80-jährige Vater von Anna Finger, Leo Leiser Fernbach, war krank und gebrechlich, eine Flucht schien viel zu beschwerlich. Er blieb in Essen. Kurze Zeit später wurde er, wie insgesamt rund 17.000 Juden mit polnischem Pass, erst an die Grenze zum Nachbarland abgeschoben und später in Polen ermordet.
Die wachsende Verfolgung von Juden zu Ende der 30er Jahre bereitete auch der Familie Rosendahl immer größere Sorgen. Sie wohnte an der Mozartstraße im Südviertel. Vater Hermann hatte noch vor dem Ersten Weltkrieg ein Möbelgeschäft gegründet, nahm seinen Schwager Hermann Bachrach mit in das Geschäft, jetzt „Rosendahl & Bachrach“, auf und kaufte 1917 eine Möbelfabrik in Kray. Das 1928 als Verkaufs- und Ausstellungszentrum errichtete RoBaHaus galt mit sieben Etagen als das erste Hochhaus in Essen. Nach dem Krieg wurde es aufgrund der Werbung Osram-Haus genannt und vor kurzem hat dort ein Hotel Einzug gehalten.
Das Ehepaar Rosendahl hatte viele gesellschaftliche Kontakte, die Hochzeit, genau gesagt die Doppelhochzeit - auch die Schwester der Ehefrau, Margaretha und der Rechtanwalt Dietrich Westfeld gaben sich das Ja-Wort - war 1919 ein gesellschaftliches Ereignis.
Als Hitler an die Macht kam, zeigte sich Elisabeth „eher pessimistisch, was die Zukunft der Juden in Deutschland anbelangte“, heißt es im Gedenkbuch der Alten Synagoge. Ihr Mann hoffte noch, dass demokratische Verhältnisse Einzug halten würden.
Eltern brachten ihre Kinder in Sicherheit, für sie gab es keine Rettung
Als aber im Oktober 1938 der Boykott jüdischer Geschäfte begann und das Möbelgeschäft verkauft werden musste, wuchs bei Hermann Rosendahl die Überzeugung, sein Heimatland verlassen zu müssen. Zunächst galt aber die Sorge den eigenen Kindern. Es gelang aufgrund vielfältiger Kontakte, dass die Söhne Hans (Jahrgang 1920) und Gerd Peter (Jahrgang 1922) nach Palästina auswandern konnten. Tochter Eva Lotte (Jahrgang 1925) kam mit einem Kindertransport nach England. Dort hatten sich Familien und Einrichtungen bereit erklärt, gegen Bezahlung, die Eltern und jüdische Organisationen übernahmen, Mädchen und Jungen zunächst einmal vorübergehend aufzunehmen. Auch wenn die Eltern Rosendahl somit dafür sorgten, ihre Kinder vor dem Zugriff der Nazis zu schützen, waren die Ausreisen mit großem Trennungsschmerz verbunden. Die Hoffnung, eines Tages wieder als Familie zusammensein zu können, sollte sich nicht erfüllen. Das NS-Regime verhinderte eine Ausreise von Elisabeth und Hermann Rosendahl nach Syrien oder Paraguay, um die sich das Paar bemühte. Am 22. April 1942 wurden die Eheleute ins polnische Izbica deportiert, eine letzte Nachricht stammt vom 2. August des Jahres. Ihre Kinder und deren Familien leben heute in Israel.
Star-Architekt war einst mit der Familie aus Essen geflüchtet
Zum Stadtkern gehörte damals wie heute die Hachestraße. Dort lebten Dora (Jahrgang 1902) und Michael (Jahrgang 1896) Fried mit ihren Kindern Betty (Jahrgang 1935) und Ingo (Jahrgang 1930). Auch diese jüdische Familie setzte alle Hebel in Bewegung, um Deutschland verlassen zu können, flüchtete erst nach Frankreich. Doch da sie dort nicht sicher war, sorgte sie dafür, dass die Kinder noch 1939 in die USA kamen, die Eltern folgten ein Jahr später.
Sohn Ingo, später James Ingo Freed, zählte zu den weltweit bekannten Architekten. Er arbeitete mit dem berühmten Architekten Mies van der Rohe zusammen, gehörte einem Team seines Berufsstandes an, das unter anderem für die Pyramide am Pariser Louvre verantwortlich zeichnet. Berühmtheit erlangte der 2005 verstorbene Architekt durch seinen Entwurf für das US-Holocaust-Museum in Washington, 1993 durch den damaligen US-Präsidenten Clinton eröffnet. Die Türme des Gebäudes erinnern an die des Vernichtungslagers Auschwitz. 1994 besuchte er seine Geburtsstadt Essen, gemeinsam mit Frau Hermine, die als Malerin arbeitete.